14.11.2024
Als der Front populaire 1936 das Recht auf bezahlten Urlaub einführte, sahen viele Arbeiter zum ersten Mal das Meer

Endlich Urlaub

Angesichts der drohenden Gefahr eines rechtsextremen Putschs trat in Frankreich 1936 eine vereinte Linke zur Wahl an und gewann. Der Regierungsantritt des historischen Front populaire wurde von Massenstreiks begleitet, die zur Verabschiedung vieler Sozialreformen führten.

»Sollte ich mich nochmal zur Wahl stellen, dann künftig nicht mehr zusammen mit LFI«, kündigte der Vorsitzende der französischen Kommunistischen Partei (PCF), Fabien Roussel, am 24. Oktober an. Damit stellt er das linke Wahlbündnis Nouveau Front populaire (NFP) in Frage, dem mit Jean-Luc Mélenchons La France insoumise (LFI) jene Partei angehört, der Roussel vorwirft, sich in Identitätspolitik zu verrennen. Von Anfang an stand das Bündnis, das sich gründete, um eine rechte Regierung zu verhindern, auf einem instabilen Fun­dament und barg das Potential für große interne Konflikte.

So ist der »neue« Front populaire, wie sich das Wahlbündnis in Anlehnung an den historischen Front populaire der dreißiger Jahre nennt, auch höchstens ein Schatten seines historischen Vorbilds, das ab 1936 als kraftvolles Bündnis linker Parteien bedeutende Sozialreformen durchsetzte.

Auch wenn dieses historische Regierungsbündnis der Linken nach nur einem Jahr den Rückzug antreten musste und im November 1938 aufgelöst wurde, schmälert das dessen Erfolge nicht. Dass Frankreich kurze Zeit später eine militärische Niederlage gegen Nazi-Deutschland erlitt, auf die eine vierjährige deutsche Besatzung folgte, ist nicht der linken Regierung anzulasten, sondern wurde durch die Haltung ­ihrer innenpolitischen Gegenspieler begünstigt, also der französischen Reaktion und der Arbeitgeberverbände, die schon vor der Kapitulation von 1940 der Maxime folgten: »Plutôt Hitler que le Front populaire!« (Lieber Hitler als den Front populaire!)

Die ersten Wochen der Regierung des Front populaire brachten Schlag auf Schlag Reformen: 133 Gesetze wurden in 73 Tagen verabschiedet.

Noch zu Beginn der dreißiger Jahre standen sich in Frankreich, ähnlich wie in Deutschland, im linken Lager So­zialdemokraten und Kommunisten feindlich gegenüber. Das änderte sich nach einem rechtsextremen Umsturzversuch. Am 6. Februar 1934 machten sich französische Faschisten, Verbände von Veteranen des Ersten Weltkriegs und Sympathisanten des Mussolini-Regimes in Italien im Bündnis mit der monarchistischen, nationalistischen und antisemitischen Bewegung Action française unter Charles Maurras daran, in Paris die Nationalversammlung zu stürmen. Der Umsturzversuch wurde niedergeschlagen, wobei es zu 17 Toten und 2.300 Verletzten kam.

Die offizielle Reaktion der Führung der Kommunistischen Partei fiel zunächst gemäß der zu dem Zeitpunkt noch geltenden Sozialfaschismus-Dok­trin der Kommunistischen Internationale aus. Der Generalsekretär der KP, Maurice Thorez, sagte im Parlament: »Sie alle, Regierende und Abgeordnete der Rechten oder der Linken, führen das Land in den Faschismus. Die internationale Erfahrung beweist, dass es keinen Wesensunterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem ­Faschismus gibt.«

Streben nach antifaschistischer Einheit

Die Basis der linken Parteien strebte jedoch nach antifaschistischer Einheit: Als in Paris am 12. Februar getrennt voneinander ein sozialdemokratischer und ein kommunistischer Demonstrationszug gegen den rechtsextremen Putschversuch marschierten, vereinigten sie sich spontan unter den Rufen: »Einheit! Einheit!« Dabei kamen 150.000 Demonstranten zusammen. Bald darauf änderte auch die Zentrale der Komintern in Moskau ihre Position. Auf ihrem VII. Weltkongress 1935 verwarf sie die Sozialfaschismustheorie und forderte die nationalen kommunistischen Parteien dazu auf, die Einheit gegen den Faschismus zu suchen, Bündnisse mit der Sozialdemokratie und sogar mit Parteien des bürgerlichen Zentrums einzugehen und dabei auch eine patriotische Rhetorik zu übernehmen.

Die französische KP ging daraufhin dazu über, bei ihren Veranstaltungen neben der Internationale auch die Nationalhymne La Marseillaise zu singen und die blau-weiß-roten Nationalfarben zu schwenken. Viele Mitglieder reagierten, indem sie die französischen Nationalflaggen so um die Fahnenstange drapierten, dass lediglich die rote Farbe zu sehen war.

Bei der Parlamentswahl im Frühjahr 1936 traten der Parti communiste français (PCF) und die damalige sozialdemokratische Partei (SFIO) sowie der Parti radical dann in einem gemeinsamen Wahlbündnis an. »Radikale« heißen in Frankreich seit dem 19. Jahrhundert die antiklerikalen Liberalen, eine mal mehr, mal weniger linke Mittelschichtspartei.

Volkssammlung für Brot, Frieden und Freiheit

Das Wahlbündnis gab sich den offiziellen Namen Rassemblement populaire pour le pain, la paix et la liberté (etwa: Volkssammlung für Brot, Frieden und Freiheit), wurde jedoch meist kurz als Front populaire (Volksfront) bezeichnet.

Der Front populaire gewann die Parlamentswahl. Das war auch ein Sieg über die rechtsextreme Massenpresse und die faschistischen Kampfverbände in Gestalt der Ligues (Bünde) – diese wurden im Juni 1936 verboten und aufgelöst. Der jüdische Politiker Léon Blum (SFIO) wurde Premierminister. Gegen ihn hatte sich zuvor eine heftige antisemitische Hasskampagne gerichtet. Ihre Wirkung verpuffte jedoch, die Linke unterstützte Blum.

Auch die algerische Partei Étoile nord-africaine (ENA) war im Front populaire vertreten und erhoffte sich von der neuen Regierung die Emanzipation derer, die unter französischer Kolonialherrschaft lebten. Diese Hoffnung wurde allerdings bald enttäuscht, der 1936 vorgelegte Reformvorschlag »projet Blum-Viollette« (Entwurf Blum-Viollette; Maurice Viollette war Staatsminister im Kabinett Blum) erfüllte das Versprechen einer Gleichberechtigung von kolonisierter und europäischstämmiger Bevölkerung nicht. Lediglich 25.000 der 6,2 Millionen arabischen und berberischen Einwohner Algeriens sollten die vollen Bürgerrechte erhalten. Deswegen entstand im März 1937 mit dem Parti du peuple algérien (PPA) die erste Unabhängigkeitsbewegung außerhalb der französischen Linken und die politischen Lager entwickelten sich auseinander.

Soziale Spannung und spontane Massenbewegung

Der Wahlsieg der Linken löste unterdessen in Frankreich eine spontane Massenbewegung aus, in der sich die soziale Spannung entlud, die sich seit der – im Oktober 1929 in den USA ausgebrochenen – Weltwirtschaftskrise aufgebaut hatte. Begünstigt wurde die rasante Ausweitung der Streikbewegung durch die Vorstellung, dass nun die eigenen Genossen an die Macht ­kämen. Ob Illusion oder nicht – diese Idee erwies sich als mächtige Antriebskraft. Die soziale Basis der linken Parteien entwickelte eine überbordende Kraft, die von der neuen Regierung erst einmal wieder eingefangen werden musste.

Unmittelbarer Anlass für die Streiks war die Entlassung von Arbeitern, die am 1. Mai – der damals noch kein gesetzlicher Feiertag war – nicht in der Fabrik erschienen waren. Zwischen dem 11. und 13. Mai brachen in zwei Flugzeugfabriken Streiks aus: in den Breguet-Werken in Le Havre und den Latécoère-Fabriken in Toulouse. Die zunächst lokalen Arbeitsniederlegungen weiteten sich schnell zu großen Streiks aus. Eine zweite Welle von Ausständen kam hinzu, dieses Mal für Lohnforderungen. Ab dem 14. Mai wurden die Bloch-Werke in der Pariser Vorstadt Courbevoie bestreikt und besetzt. Mehrere Wochen hielten die Streiks an, denen sich weitere Belegschaften angeschlossen hatten.

Das alles vollzog sich, noch bevor die neue Regierung am 4. Juni vereidigt wurde. Am 7. Juni schlossen die Streikenden ein Abkommen mit den Gewerkschaften und nahmen vier Tage später die Arbeit wieder auf. Das Wahlprogramm des Front populaire hatte nur in allgemeiner Form eine »Verkürzung der Arbeitswoche ohne Lohnverlust« versprochen. Erst nach den Streiks konkretisierte sich die Forderung nach der 40-Stunden-Woche anstelle der bis­herigen 48-Stunden-Woche. Bezahlten Urlaub hingegen hatte zunächst keines der Parteiprogramme gefordert, auch wenn es damals bereits in Deutschland, Österreich und in den skandinavischen Ländern gesetzlichen Urlaubsanspruch gab. Die französische KP stand dem bezahlten Urlaub sogar ausgesprochen feindlich gegenüber, da ihrer Auffassung nach eine solche Forderung »das arbeitende Volk abwertet«, indem es diesem ein Verlangen nach Faulenzerei und Nichtstun unterstelle. Bei früheren Streiks, zum Beispiel 1925 und 1933 bei Citroën, hatte der PCF sich eifrig bemüht, die – im Dezember 1925 zunächst von Arbeitern erhobene – Forderung nach bezahltem Urlaub fallenzulassen.

Abnahmegarantie für Getreide zu Mindestpreisen

In der Nacht vom 8. auf den 9. Juni 1936 schrieb der Ministerialdirektor im Arbeitsministerium, Charles Picquenard, in Windeseile einen Gesetzentwurf für bezahlten Urlaub, der am 9. Juni der Nationalversammlung vorgelegt wurde. Unter dem Eindruck der Streiks stimmten nunmehr auch rechte Ab­geordnete der Einführung von zwei Wochen bezahltem Urlaub zu, der Beschluss wurde einstimmig gefasst.

Die ersten Wochen der Regierung des Front populaire brachten Schlag auf Schlag Reformen: 133 Gesetze wurden in 73 Tagen verabschiedet. Die wichtigsten brachten die 40-Stunden-Woche, den bezahlten Urlaub – viele Arbeiter sahen im Sommer 1936 zum ersten Mal in ­ihrem Leben das Meer –, festgeschriebene Mindestlöhne und eine gesetzliche Grundlage für Tarifverträge. Den Bauern, die damals immerhin 30 Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus­machten, gewährte die öffentliche Hand eine Abnahmegarantie für das Getreide zu festen Mindestpreisen.

Aufgrund der Schwierigkeiten, weitere Reformen gegen den Druck des Kapitals durchzusetzen – das seine Machtinstrumente wie Investitionszurückhaltung, Kreditverteuerung, Spekulation gegen den französischen Franc zur Abwertung der Nationalwährung ausspielte –, trat Blum im Juni 1937 zurück. Die Nationalversammlung bestand in ihrer Zusammensetzung allerdings bis zum Zweiten Weltkrieg fort. Doch nunmehr regierten hauptsächlich die Radikalen, die mit der Linken brachen und Mehrheiten mit bürgerlichen Bündnispartnern suchten. Offiziell herrschte »Reformpause«. Schon 1936 hatten sich im linken Bündnis erste Risse gezeigt: Die KP forderte Waffenlieferungen an die von den Franco-Faschisten bedrohte Spanische Republik, Blum bremste. Zwei Jahre folgte ein erbitterter Streit über das Münchner Abkommen.