Das Warten, die Wut und der Schlamm
Granada. Die Bilanz der Flut im Osten Spaniens ist verheerend. Mindestens 217 Tote wurden geborgen, zumindest Hunderte werden noch vermisst, über 800.000 Menschen sind direkt von der Katastrophe betroffen. Viele Haushalte sind immer noch ohne Strom, das Handynetz ist nach wie vor schwach und fällt immer wieder stellenweise wegen Überlastung aus. Es fehlt in vielen Gebieten auch eine Woche nach der Flutkatastrophe noch am Nötigsten: Trinkwasser, Medikamenten, Nahrungsmitteln und vielem mehr.
Starker Herbstregen ist nicht ungewöhnlich. Das Wetterphänomen Dana (depresión aislada en niveles altos, isoliertes Tief in großer Höhe), auch gota fría (kalter Tropfen) genannt, entsteht in fünf bis zehn Kilometern Höhe durch einen Zustrom polarer Kaltluft. Doch selbst für solche Bedingungen war die Regenmenge, die sich ab Dienstagnachmittag vergangener Woche über die spanische Region Valencia, den Süden von Kastilien und León sowie den Osten und Süden Andalusiens ergoss, immens. Schon eine Woche zuvor war die Wahrscheinlichkeit einer Regenmenge von 400 Litern Niederschlag pro Quadratmeter binnen 24 Stunden als hoch erachtet worden. In Turís nahe València fielen dann sogar 630 Liter, in Chiva 445 Liter, das Äquivalent des durchschnittlichen dortigen Jahresniederschlags.
Erst kurz nach 20 Uhr wurden in der Region València die SMS-Warnungen umfassend versandt, als sich bereits Sturzbäche ihren Weg bahnten und die Wasserstände rapide stiegen.
Die Rekordtemperaturen des Mittelmeers – im August den Satellitendaten des europäischen Wetterbeobachtungssystem Copernicus zufolge durchschnittlich 28,5 Grad Celsius – lassen das Phänomen häufiger auftreten und heftiger ausfallen, darin sind sich Meteorolog:innen und Klimaexpert:innen einig. Verschlimmert wurde die Flut durch die Flächenversiegelung; die Regionalregierungen hatten bei den Bebauungsplänen die Überschwemmungsgefährdung jahrzehntelang außer Acht gelassen.
Überdies wurden viele Menschen im Katastrophengebiet zu spät gewarnt. Der staatliche Wetterdienst Aemet gab am 29. Oktober bereits ab sieben Uhr morgens Alarmstufe rot aus – das ignorierte die Regionalregierung von Valencia unter Präsident Carlos Mazón vom rechtskonservativen Partido Popular (PP). Erst kurz nach 20 Uhr wurden die SMS-Warnungen umfassend versandt, als sich bereits Sturzbäche durch Gassen und Straßen der Orte im Bergland ihren Weg bahnten und die Wasserstände in den Küstenorten rapide stiegen. Verzweifelte Hilferufe von Menschen, die sich an Äste von Bäumen klammerten, und auch erste Berichte von Leichen, die in den Wasserfluten trieben, kursierten da bereits in sozialen Medien und Fernsehnachrichten.
»Mörder! Mörder!«, skandierten Einwohner:innen
Vielerorts kamen Rettungsmaßnahmen und Hilfslieferungen nur schleppend in Gang. Offizielle Vermisstenzahlen wurden nicht mehr veröffentlicht, nachdem die Rettungskräfte zum Ende der Vorwoche die unbestätigte Zahl von 1.900 genannt hatten. Es wird befürchtet, dass viele Menschen sich nicht aus den unterirdischen Parkhäusern von Einkaufszentren retten konnten. So stand in Aldaia das Parkhaus des Einkaufszentrums Bonaire mit einer unterirdischen Kapazität von über 1.700 Autos am Sonntag noch komplett unter Wasser. Erst am Montag konnten die Feuerwehrleute mit den Rettungsarbeiten beginnen. Die ersten 50 Fahrzeuge wurden inspiziert, glücklicherweise waren alle unbesetzt. Aber im komplett verwüsteten Dorf Letur am Zusammenfluss von sieben Bächen werden noch vier Menschen vermisst.
Kein Wunder also, dass König Felipe VI., Königin Letizia, Ministerpräsident Pedro Sánchez vom sozialdemokratischen PSOE und Mazón bei ihrem ersten Besuch im Katastrophengebiet in Paiporta ein wütender Empfang bereitet wurde. »Mörder! Mörder!« und »Mazón, Rücktritt«, skandierten Einwohner:innen. Das Königspaar wurde mit Schlamm beworfen.
Unter die Menge hatten sich auch organisierte Rechtsextreme gemischt. König Felipe umarmte zwei Mitglieder von Revuelta, einer mit der rechtsextremen Partei Vox verbundenen Jugendorganisation. Einer der Agitatoren trug ein Sweatshirt mit dem Emblem der Blauen Division, die mit den NS-Truppen gegen die Sowjetunion gekämpft hatte. Die Rechtsextremen attackierten Sánchez, den sein Sicherheitsteam umgehend aus der Gefahrenzone evakuierte.
Rechtsextreme im Vorwahlkampf
»Die Wut der Anwohner ist mehr als gerechtfertigt«, sagt Antifaschismusforscher Miquel Ramos im Gespräch mit der Jungle World. »Doch die Rechtsextremen nutzen die Situation und die mediale Aufmerksamkeit für ihre Ziele aus. Sie sind nicht zum Helfen ins Katastrophengebiet gekommen. Sie sind im Vorwahlkampf.« Proteste seien nun auch vor der Zentrale des PSOE in Madrid angesetzt; es gehe darum, vom Versagen Mazóns abzulenken und Sánchez zu diskreditieren.
Die spanischen Rechtsextremen leugnen den menschengemachten Klimawandel, sie verbreiten Falschnachrichten und wollen die Katastrophe für ihre Zwecke nutzen. Rechte Medien schüren die Angst vor Plünderungen und rassistische Ressentiments, indem sie etwa die angeblich luxuriöse Unterbringung von Flüchtlingen mit den Notquartieren im Katastrophengebiet kontrastieren.
Nach einer Woche liegt vielerorts der modrige Geruch verrottender Lebensmittel in der Luft. Handschuhe, Mund-Nasenschutz und Desinfektionsmittel werden benötigt. Es besteht die Gefahr, dass sich Infektionskrankheiten ausbreiten.
Derweil läuft der bislang größte Einsatz der Armee in Spanien in Friedenszeiten sukzessive weiter an. Am Samstag entsandte Sánchez weitere 5.000 Soldaten und 5.000 Polizisten in das Katastrophengebiet. Zu den Polizeikräften, die in die am heftigsten getroffenen Städte und Orte im Südosten der Region Valencia verlegt wurden, gehören auch Angehörige der paramilitärisch organisierten Guardia Civil und Einheiten zur Bekämpfung von Aufruhr aus allen Landesteilen.
Nach einer Woche liegt vielerorts der modrige Geruch verrottender Lebensmittel in der Luft. Handschuhe, Mund-Nasenschutz und Desinfektionsmittel werden benötigt. Es besteht die Gefahr, dass sich Infektionskrankheiten ausbreiten, auch für Zehntausende Freiwillige aus vielen Teilen Spaniens. Unter ihnen sind auch Angehörige anarchosyndikalistischer Kollektive, die selbstorganisiert Hilfsgüter sammeln und anliefern.
Vorerst regnet es weiter, wenn auch längst nicht mehr so stark. Doch bis Barcelona im Nordosten und Murcia sowie Almería an der südlichen Mittelmeerküste sind Wetterwarnungen ausgegeben worden.