Zwangsarbeiter mit gelbem Stern
Es war ein Zufall, durch den Historiker:innen auf die Geschichte des bis dahin unbekannten Zwangsarbeitslagers Karya stießen. 2002 fand Andreas Assael, Sohn eines der wenigen jüdischen Bewohner Thessalonikis, die den Holocaust überlebten, auf einem Münchner Flohmarkt ein Album mit Fotos, die aus der Zeit der deutschen Besatzung Griechenlands stammten. Neben touristischen Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten enthielt das Album auch zahlreiche Bilder verschiedener Baustellen – darunter einer in Karya, einer kleinen Bahnstation 250 Kilometer nördlich von Athen. Nach eingehender Betrachtung erkannte Assael, dass er es mit einem historisch bedeutsamen Dokument zu tun hatte: Auf einigen Bildern ist deutlich zu erkennen, das die Arbeiter den »gelben Stern« auf ihrer Kleidung trugen, mit dem Jüdinnen und Juden zwangsweise gekennzeichnet wurden.
Es folgten zwei Jahrzehnte der Recherche. Assael fand heraus, dass die Fotos zur Sammlung des aus Nürnberg stammenden, 1995 verstorbenen Bauingenieurs Hanns Rössler gehörten. Dieser hatte zahlreiche Baustellen in Griechenland geleitet, die die paramilitärische Bautruppe »Organisation Todt« betrieben hatte. In Karya, das sich an der dort eingleisigen Bahnstrecke Athen–Thessaloniki–Belgrad befand, organisierte er den Bau eines Ausweichgleises. Von Ende März bis Anfang August 1943 mussten 300 bis 500 aus Thessaloniki verschleppte jüdische Männer unter grauenhaften Bedingungen eine Bahntrasse durch einen Berg schlagen. Die Eisenbahnstrecke hatte für die Deutschen zentrale logistische Bedeutung für die Besetzung Griechenlands, sowohl zur Truppenverschiebung als auch zur Ausplünderung des Landes. Nach Auflösung der Baustelle wurden die Männer, die die Zwangsarbeit überlebt hatten, zurück nach Thessaloniki gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert.
Assael gelang es, im Zuge seiner Recherchen einige der wenigen Überlebenden ausfindig zu machen. Anhand ihrer Berichte und der Fotos konnte er die Geschichte des Zwangsarbeitslagers weitgehend rekonstruieren. Einer der Überlebenden sagte später, dass die Zustände in Karya schlimmer gewesen seien als in Auschwitz-Birkenau.
Von Ende März bis Anfang August 1943 mussten in Karya 300 bis 500 aus Thessaloniki verschleppte jüdische Männer unter grauenhaften Bedingungen eine Bahntrasse durch einen Berg schlagen.
Assael wandte sich schließlich mit seinen Funden an das deutsche Generalkonsulat in Thessaloniki, das den Kontakt zur Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas und dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Niederschöneweide herstellte. Gemeinsam mit der interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften der Universität Osnabrück erforschte das Dokumentationszentrum die Geschichte von Karya weiter. Die Ergebnisse bereitete das Team der Gedenkstätte mit Unterstützung des Jüdischen Museum Griechenlands und der Aristoteles-Universität Thessaloniki für eine Ausstellung über »Zwangsarbeit und Holocaust« in Griechenland auf, in deren Zentrum Assaels Zufallsfund steht. Als Wanderausstellung konzipiert, ist sie gleichzeitig in Griechenland und Deutschland zu sehen, wo sie bis März 2025 im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Niederschöneweide gezeigt wird.
Ist bei vielen hierzulande schon über die Verheerungen der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg wenig bekannt, so ist die Geschichte des Einsatzes von Zwangsarbeitern in Griechenland selbst für die Geschichtswissenschaft nahezu Neuland. Dabei war das Besatzungsregime, das die Deutschen dort von 1941 bis 1944 führten, äußerst brutal. Bereits im ersten Besatzungswinter kam es, weil die Deutschen die Nahrungsmittel raubten, zu einer Hungersnot, der allein im Großraum Athen 40.000 Menschen zum Opfer fielen. Die Deutschen plünderten die griechische Wirtschaft aus, unter anderem indem sie dem griechischen Staat die Zahlung des deutschen Wehrsolds und die Unterhaltungskosten der Truppen auferlegten. Das Land sollte sich für Jahrzehnte nicht davon erholen.
Im Zuge der sogenannten Bandenbekämpfung ermordete die Wehrmacht, vor allem die Gebirgsjäger, Tausende griechischer Zivilist:innen und zerstörte zahlreiche griechische Dörfer. Allein auf Kreta zerstörten Wehrmachtssoldaten über 30 Dörfer und ermordeten 3.474 griechische
Zivilisten als vermeintliche Partisanen.
Nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung Griechenlands wurde ausgelöscht. Mehr als 90 Prozent der griechischen Jüdinnen und Juden lebten in Thessaloniki, das deshalb bis zum Einmarsch der Deutschen als »Jerusalem des Balkans« galt. Die jüdische Gemeinde Griechenlands wurde fast vollständig in das sogenannte Generalgouvernement deportiert und in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka umgebracht, sofern sie nicht bereits bei der Zwangsarbeit in Griechenland starb. Wie diese aussah, lässt sich anhand des von Andreas Assael gefundenen Fotoalbums exemplarisch rekonstruieren.
Die Bilder und die in der Landschaft Karyas verbliebenen Spuren sind die einzigen materiellen Zeugnisse dieses Lagers. Es ist davon auszugehen, dass es noch viele weitere Zwangsarbeitslager während der Besatzungszeit gab, die bisher unbekannt sind. Die Geschichte der Überlieferung des Fotoalbums zeigt, wie selektiv und wie stark vom Zufall geprägt Erinnerung ist. Als Kontrast zur Sicht der Täter, die sich in den Fotografien widerspiegelt, fanden die Erinnerungen von acht Überlebenden ihren Weg in die Ausstellung. Ohne ihre Zeugnisse wäre heute nur der Blick des Baustellenleiters übriggeblieben, vermischt mit den Urlaubsfotos des begeisterten deutschen Griechenland-Reisenden.
Wie lückenhaft die Erforschung der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland nach wie vor ist, stellte der Historiker und Co-Kurator der Ausstellung, Iason Chandrinos, in einem Vortrag dar, den er im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Niederschöneweide hielt. Die deutsche Besatzung und die systematische Ausbeutung griechischer Zivilisten durch Zwangsarbeit seien in der Erinnerung in Griechenland lange vom Bürgerkrieg verdeckt worden, der nach 1945 ausbrach.
Bei der Erforschung des Zwangsarbeitslagers Karya zeigte sich, dass die Aktivitäten der »Organisation Todt« bis heute nicht eingehend erforscht sind, obwohl diese eine zentrale Rolle in der deutschen Kriegführung spielte; auf den von ihr in zahlreichen Ländern betriebenen Baustellen starben Zehntausende Zwangsarbeiter durch Erschöpfung und Hunger. Wie im Fall Karya waren es oft private Unternehmer, die kriegswichtige Infrastruktur bauten und dabei doppelt vom Krieg profitierten: Als Auftragnehmer des Staats waren sie finanziell abgesichert und konnten gleichzeitig auf das System der Zwangsarbeit zugreifen, was bedeutete, dass nahezu keine Kosten für Arbeitskräfte anfielen. Viele der beteiligten Baufirmen bestanden nach dem Krieg weiter. So auch im Fall von Karya: Die Firma Leonhard Moll, für die Hanns Rössler tätig war, gibt es immer noch.
Die Ausstellung »Karya 1943 – Zwangsarbeit und Holocaust« erinnert an das bislang unbekannte Schicksal der jüdischen Zwangsarbeiter von Karya und weist zugleich auf zahlreiche Forschungslücken und Leerstellen in der Erinnerung hin, auch in Griechenland, wo die Ausstellung seit Oktober im Jüdischen Museum Griechenlands und im Benaki-Museum in Athen zu sehen ist.
Die Ausstellung »Karya 1943 – Zwangsarbeit und Holocaust« ist noch bis zum 30. März 2025 im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin zu sehen.