Himmlers Hexen
Neun Millionen Menschen in Deutschland glauben an die Existenz von Hexen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der American University in Washington, D.C., aus dem Jahr 2022. Diese Zahl scheint wie verhext, glaubte man doch in Deutschland noch bis in die siebziger Jahre hinein nicht nur in neopaganistischen, sondern auch in feministischen Kreisen an die »Neun-Millionen-Theorie«, womit die Behauptung gemeint war, dass der Hexenverfolgung in Europa neun Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Die Verbreitung dieses Mythos lässt sich maßgeblich auf die Rezeption im Nationalsozialismus zurückführen, die mit der exorbitanten Opferzahl die Auslöschung eines vorchristlichen Deutschtums belegen wollte. Einen Förderer fand diese Vorstellung eines germanischen Hexenkults insbesondere im Reichsführer SS Heinrich Himmler.
In einem Artikel von 1935 beschreibt Friederike Müller-Reimerdes die Hexenverfolgung als Ausdruck der »jüdischen Denkart«.
1935 hielt er auf dem Reichsbauerntag in Goslar eine von nur wenigen Reden, in denen er seine Obsession für die Geschichte der europäischen Hexenverfolgung mit einer großen Zuhörerschaft teilte. Wesentlich konspirativer erteilte Himmler im selben Jahr den sogenannten Hexen-Sonderauftrag. Er beauftragte den Sicherheitsdienst (SD), den Geheimdienst der SS, damit, alle auffindbaren Akten über Hexenprozesse in Europa zu sammeln und auszuwerten. So entstand die »Hexenkartothek«, ein Archiv mit mehr als 30.000 Karteikarten, das Prozesse und Hinrichtungen akribisch dokumentierte.
Die Motivation für das aufwendige Forschungsvorhaben lag in Himmlers Überzeugung begründet, die Hexenverfolgung habe einen gezielten Kampf gegen die »urdeutsche« Kultur dargestellt. Getrieben vom Hass auf die Moderne und der Sehnsucht nach einer vorrationalen Zeit, erhoffte er sich Beweise für die Rolle der Hexen als Vertreterinnen eines alten heidnischen und arischen Kults, der sich wiederbeleben ließe. Neben spiritistischen Erkenntnissen sollte die Forschung aber auch genaue Opferzahlen der Verfolgungen zutage fördern und deren Hintermänner ermitteln.
Erste Märtyrern der NS-Bewegung
Der NS-Okkultismus stilisierte die Hexen zu den ersten Märtyrern der Bewegung und deutete sie als frühe Opfer eines rationalistischen Antigermanismus. Diese ideologischen Absichten fanden auch in der »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe« einen pseudowissenschaftlichen Ausdruck, die ebenfalls im Jahr 1935 gegründet wurde, um die Ursprünge einer urdeutschen Hochkultur zu untersuchen. Himmler erhoffte sich durch das Ahnenerbe eine deutlichere Abkehr des Nationalsozialismus von einer von ihm als römisch und orientalisch wahrgenommenen christlichen Tradition.
Die nationalsozialistische Faszination für die Hexengeschichte reicht aber noch vor Himmlers geheimdienstlichen Hexensonderauftrag zurück. Schon vor der Machtergreifung Hitlers hatte Alfred Rosenberg, von 1923 bis 1938 Chefredakteur des Völkischen Beobachters, eine Einordnung der Hexenverfolgung in die germanische Kulturgeschichte vorgenommen. In seinem 1930 veröffentlichten antisemitischen Hauptwerk »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« setzte er das Christentum in einen Gegensatz zu der Idee einer germanischen Hochkultur. Die Hexenverfolgungen schrieb er »rasselosen, wüsten« Römern zu, die das Germanentum vernichten wollten.
Demnach war es die Kirche mit ihren »syrischen« – will heißen: jüdischen – Ursprüngen, die eine heidnisch-germanische Spiritualität durch das Christentum ersetzt hätte. Rosenbergs Thesen über die Zerstörung der germanischen Kultur in der Hexenverfolgung fand in weiten Teilen der völkischen Bewegung Widerhall, so auch bei der Rechtsesoterikerin Mathilde Ludendorff. Die Ehefrau des völkischen Generals Erich Ludendorff, der einer der Urheber der Dolchstoßlegende und 1923 Putschgefährte Hitlers war, sah in der Hexenverfolgung die Beseitigung einer urdeutschen Frauenkultur. In ihrem Pamphlet »Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen« von 1934 machte sie christliche Männer für die Unterdrückung der deutschen Frau verantwortlich und sprach dabei von neun Millionen getöteten Hexen.
Rassistische und antisemitische Opfererzählung
Der »Neun-Millionen-Theorie« ging der Historiker Wolfgang Behringer 1989 in seinem Artikel »Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos« auf den Grund. Tatsächlich gehen Historiker davon aus, dass die Zahl der Opfer der Hexenverfolgung bei bis zu 70.000 liegt. Als Erster hatte der protestantische Gelehrte Gottfried Christian Voigt die Opferzahl von neun Millionen behauptet. 1784 stellte er in dem Artikel »Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland« eine Rechnung auf, die eher an die Zahlenmystik des »Hexeneinmaleins« in Goethes Faust erinnert als an eine seriöse historische Untersuchung.
Mathilde Ludendorffs Schrift verankerte den Mythos dann nachhaltig im Volksglauben. In der Bewegung des völkischen Feminismus wurde die Zahl schließlich nicht nur aufgegriffen, sondern von Friederike Müller-Reimerdes sogar noch auf zehn Millionen erhöht. Auch sie nutzte die Hexenverfolgung für eine rassistische und antisemitische Opfererzählung.
In ihrem Artikel »Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau« von 1935 beschrieb Müller-Reimerdes die Hexenverfolgung als Unterdrückungswerkzeug gegen nordische Frauen und als Ausdruck der »jüdischen Denkart«, die das Christentum geprägt habe. Dieses wird hier als »rassewidrige Weltanschauung« gezeichnet, die zur »Entartung deutschen Mannestums« geführt habe.
Inszenierung von Hexen als Märtyrerinnen
Müller-Reimerdes behauptete, die Kirche habe »blonde Frauen und Mütter, Trägerinnen des nordischen Rasseerbguts«, vernichtet, um den germanischen Volkskörper zu schwächen. In der Hexenverfolgung sei das Christentum als »konsequentestes Männerkollektiv« in Erscheinung getreten. Die Opferzahl von neun Millionen, die eine systematische Vernichtung eines angeblich germanischen Frauenkults belegen sollte, wurde so zu einem populären Argument gegen die christliche Kirche und zog weite Kreise in NS-Schulungsbriefen und Ausstellungen.
Dass die Inszenierung von Hexen als Märtyrerinnen eines unterdrückten urdeutschen Kults trotz großer Bemühungen an ihre Grenzen stieß, zeigt sich wohl auch darin, dass die Hexenkartothek bis Kriegsende vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurde. Ergebnisse, die eine tiefe Verbindung der Germanen zu einem urtümlichen Hexenkult belegen sollten, blieben aus, und auch als Urheber der Verfolgungen wurden statt christlichen Klerikern viel zu häufig urdeutsche Laien ausgemacht. Die ersehnte germanische Hochkultur, die Himmlers Hexen-Sonderauftrag und die Arbeiten der »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe« beweisen sollten, war in bester Grimm’scher Tradition nie mehr als ein politisches Märchen.