Tagtägliche Unterdrückung
Wien. Für Frauen, die vor den Taliban fliehen, war es eine seltene gute Nachricht: Am 4. Oktober entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass das Ausmaß der Unterdrückung von Frauen durch das islamistische Regime in Afghanistan generell eine Verfolgung im Sinne des Asylrechts konstituiere, weshalb bei der Prüfung ihrer Asylanträge in Zukunft nicht mehr die Fluchthintergründe im jeweiligen Einzelfall, sondern nur Geschlecht und Staatsangehörigkeit überprüft werden müssen.
Die Taliban, deren Herrschaft derzeit immer mehr internationale Legitimation erfährt, weil Staaten wie Deutschland zumindest indirekt mit ihnen über die Abschiebung von männlichen Flüchtlingen verhandeln, haben seit ihrer Machtübernahme im August 2021 systematisch die Unterdrückung von Frauen weiter verschärft. Ihnen sind die meisten Formen bezahlter Arbeit verboten, es gibt keine weiblichen Richterinnen oder Anwältinnen mehr, sie dürfen nicht in öffentlichen Parks spazieren gehen und sie dürfen keine weiterführende Schulen oder Universitäten besuchen.
Von den Taliban im August in Afghanistan eingeführte Gesetze verbieten Frauen, außerhalb ihres Hauses ihr Gesicht zu zeigen oder zu sprechen.
Zudem führte das islamistische Regime die Steinigung von Frauen beispielsweise wegen Ehebruch wieder ein. Im August eingeführte Gesetze verbieten Frauen, außerhalb ihres Hauses ihr Gesicht zu zeigen oder zu sprechen. Sie dürfen auch in ihrem Haus nicht so laut singen, dass man sie auf der Straße hören kann. Seema Ghani, ehemalige Ministerin in der Regierung unter Hamid Karzai, sagte auf dem »All Afghan Women Summit« in Tirana im September: »Frauen und Mädchen in Afghanistan leben tagtäglich in Angst. Schon das Verlassen des Hauses ist für sie eine Tortur.«
Anlass des Urteils des EuGH war eine Anfrage des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs über die Verfahren zweier afghanischer Frauen, die 2015 nach Österreich eingereist waren und denen zunächst kein Asyl gewährt worden war. Österreichs noch amtierende Regierung zeigt sich von der Entscheidung des EuGH allerdings unbeeindruckt. »Um Missbrauch zu verhindern«, werde weiterhin jeder Fall einzeln geprüft, ließ Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) ausrichten – und das, obwohl die Anerkennungsquote bei weiblichen afghanischen Flüchtlingen in Österreich mittlerweile ohnehin in der ersten Instanz bei 99 Prozent und in der zweiten bei 100 Prozent liegt, wie der Verein Asylkoordination Österreich anmerkte.
Versperrte Fluchtwege in die EU
Die frühere frühere EuGH-Richterin Maria Berger kritisierte Karners Entscheidung denn auch als »fortgesetzten Wahlkampf«. Die FPÖ, die bei der Nationalratswahl Ende September mit 28,9 Prozent der Stimmen stärkste Kraft geworden war, bezeichnete das Urteil des EuGH als »fatal« und griff explizit die ÖVP an, die »am liebsten den Mantel des Schweigens über dieses Urteil breiten« wolle. Die FPÖ behauptete dabei, Experten, gingen davon aus, »dass dieses Urteil geradezu eine Einladung an Schlepperbanden darstellt«.
Tatsächlich sagte auch der Europarechtler Walter Obwexer, der im Beirat für EU-Recht der österreichischen Regierung sitzt, über das Urteil: »Die Schlepper müssen nur noch schauen, dass sie Frauen aus Afghanistan in einen EU-Staat bringen. Danach kommen die Mitglieder der Kernfamilie über den Familiennachzug nach.« Und die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss, erkannte zwar an, dass das EuGH-Urteil der bisherigen Rechtsprechung entspreche, doch diese müsse der Stimmung in der Bevölkerung angepasst werden: »Man muss schon auch auf die Einstellung in der Bevölkerung eingehen. Sonst wird das Vertrauen in die Rechtsprechung und das Ansehen der Gerichte beschädigt.«
Doch geben es die Daten nicht her, dass nun eine massenhafte »irreguläre Migration« von afghanischen Frauen bevorstünde. In Dänemark, Finnland und Schweden, die allesamt seit 2022 afghanischen Frauen generell Asyl gewähren, kann von erhöhten Antragszahlen keine Rede sein. Ein wichtiger Grund dafür sind die mehr oder weniger versperrten Fluchtwege in die EU.
EU-Milliardenunterstützung für Abschiebegefängnisse
Auch außerhalb der EU werden immer mehr Vorkehrungen gegen afghanische Flüchtlinge ergriffen. Der Iran war für Afghan:innen jahrzehntelang ein Land, in dem trotz Diskriminierung, Hetze und Gewalt zumindest ein prekäres Überleben möglich war. Just seit der Machtübernahme der Taliban steigerten die iranischen Behörden jedoch ihre Abschiebungsbemühungen. Nach Angaben des Danish Refugee Council hat der Iran im Jahr 2022 485.000 Afghan:innen abgeschoben, 2023 bereits 651.000 und seit Beginn dieses Jahres mussten knapp 400.000 den Iran verlassen. Im September kündigte die Regierung an, in den kommenden Monaten zwei Millionen Menschen nach Afghanistan abzuschieben.
In die Türkei schaffen es immer weniger afghanische Flüchtlinge; die, die sich dorthin retten konnten, sind ebenfalls von zunehmenden Abschiebungen bedroht. Allein 2022 hat die Türkei nach eigenen Angaben 66.000 Afghan:innen abgeschoben. Etliche der Aufnahme- und Registrierungszentren, die ab 2016 mit Milliardenunterstützung der EU in der Türkei errichtet worden waren, sind mittlerweile zu Ausreisezentren, de facto also zu Abschiebegefängnissen mit Stacheldraht umfunktioniert worden.
Unter anderem von Politico und dem Spiegel veröffentlichte Recherchen zeigen, dass Hunderte Millionen Euro EU-Gelder auch in den Bau von Deportationszentren geflossen sind, von denen aus vor allem Syrer:innen und Afghan:innen außer Landes geschafft werden. Politico berichtet zum Beispiel über einen Afghanen, der als Übersetzer für die britische Armee gearbeitet hatte und nach einem Versuch, über die bulgarische Grenze in die EU einzureisen, in einen von Ungeziefer befallenen Keller eines Abschiebezentrums verfrachtet worden war. An den Wänden hätten »Schilder mit der Aufschrift: ›Gefördert durch die Europäische Union‹ gehangen«.