120 Jahre keine Tradition
Die Diskussion im deutschen Fußball darüber, was einen sogenannten Traditionsverein ausmacht, ist im Zuge einiger Jubiläen wieder in vollem Gange. Grob zusammengefasst geht es dabei darum, ob die gut bezahlte Horde von elf wilden Kerlen, der man nur zu bereitwillig sein letztes Hemd opfert, einen langweiligen Retortenverein repräsentiert oder doch einen sympathischen Kiezclub mit ganz viel Geschichte und Geschichten. Dass alle Bundesligavereine längst mittlere Unternehmen sind, wird mal ganz beiseite gelassen.
Ein Grund für das erneute Aufflammen dieser zumeist substanzlosen Debatte – Ähnliches hatte es schon beim sportlichen Aufstieg von RB Leipzig oder der TSG Hoffenheim gegeben – ist das Jubiläum des Turn- und Spielvereins 1904 der vormaligen Farbenfabrik Friedrich Bayer Co. Leverkusen, heute TSV Bayer 04 Leverkusen, des amtierenden Meisters der Bundesliga.
Zu diesem runden Geburtstag wurde nicht nur ein Sondertrikot, das an das erste Leibchen der Clubgeschichte aus der Saison 1907/1908 erinnert, von der Mannschaft ausgeführt, nein, das Management lieferte gleich auch noch den selbstironischen Spruch »Keine Tradition seit 1904« mit dazu. Danach war erst einmal Ruhe im Karton – so viel Chuzpe hatte kaum jemand der Führungsetage des als »Werkself« weltweit bekannten Werbeträgers der Bayer AG zugetraut.
Es interessiert nicht, dass allgemein die Faustregel gilt: Je älter ein Verein, umso tiefer ist dieser naturgemäß in die deutsche Geschichte verstrickt.
Außerdem fiel in dieses Jahr das 125jährige Jubiläum eines Turnvereins aus Hoffenheim, der heutzutage in der höchsten Spielklasse des professionellen Rasenballsports von den fanatischsten Fans als Ausgeburt der Hölle, also als Retortenclub ohne Seele, angefeindet wird. Dabei kann die Turn- und Sportgemeinschaft aus dem Kraichgau auf eine Reihe von großen Erfolgen zurückblicken, wie die Meisterschaften in der B-Klasse Sinsheim-Nord in den Jahren 1957, 1961 und 1970. Solche Petitessen interessieren aber die traditionsbewussten Massen im globalen Verdrängungswettbewerb Profifußball nicht.
Es interessiert solche Fans erst recht nicht, dass allgemein die Faustregel gilt: Je älter ein Verein, umso tiefer ist dieser naturgemäß in die deutsche Geschichte verstrickt. Da wäre zum Beispiel der Borussianismus: Diese fixe Idee prägte im 19. Jahrhundert der Mainzer Erzbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler.
»Unheilvolle Verquickung von Absolutismus, Militarismus und Spießbürgertum«
Der Schriftsteller Theodor Fontane sah darin ein zur Ideologie geronnenes Preußentum, ganz konkret die »unheilvolle Verquickung von Absolutismus, Militarismus und Spießbürgertum«. Preußen habe die historische Mission, das heilige Deutschland in ein protestantisch dominiertes Kaiserreich zu führen, und zudem eine besondere Aufgabe in der Weltpolitik. Echte Borussen, ob nun in Gladbach, Berlin oder Dortmund, tragen diese im Namen des Herren vorgetragene Botschaft immer noch stolz im Vereinsnamen.
Die ältesten Sportvereine hierzulande haben ihre Wurzeln in der Turnerbewegung. Als Gründer dieser paramilitärischen Bewegung gilt der 1778 in der Prignitz geborene Sohn eines evangelischen Pfarrers, Friedrich Ludwig Jahn. Mitturnen durften damals nur Männer »deutscher Abstammung«. Frauen, Juden und Sinti und Roma waren unerwünscht. In seinen Werken verbreitete der Hilfslehrer die Idee eines Großdeutschland, keifte gegen das »jüdelnde Weltbürgertum« und sprach davon, dass der »Haß alles Fremden des Deutschen Pflicht« sei.
Prominent trägt der Sport- und Schwimmverein Jahn aus Regensburg als bundesweit bekanntester Verein – er spielt in der Zweiten Bundesliga – den deutschnationalen Vorturner im Vereinsnamen. Kritik an dieser fragwürdigeren Form der Traditionspflege gibt es bisher kaum.
Bei einer Umfrage im Jahr 2020 entschieden sich knapp 80 Prozent der Befragten, dass das Stadion, in dem die Regensburger Profis spielen, den Namen Jahnstadion tragen soll. Bundesweit gibt es noch 15 weitere Stadien und eine Sportschule, die ebenfalls den Namen des Manns tragen, dem die Menschheit unter anderem die Gräuel des Geräteturnens zu verdanken hat.
Fußball galt im Deutschen Reich als »Engländerei«
Neben dem Gründungsjahr lässt sich die Herkunft aus der von Jahn initiierten völkischen Turnerbewegung leicht an den Bezeichnungen »Turn- und Sportverein« (TSV) beziehungsweise »Turn- und Sportgemeinschaft« (TSG) feststellen. Dafür braucht es kein großes detektivisches Gespür. Als sich der ortsansässige Hoffenheimer Fußballverein, 1920 gegründet, mit dem Turnverein von 1899 zusammenzuschließen wollte, bekam er mehrfach eine Abfuhr. Fußball galt im Deutschen Reich traditionell als »Engländerei«. Die Verantwortlichen des Turnvereins fabulierten im April 1920 selbstbewusst, dass der Zuspruch für den »Fußball-Verein schon wieder am Abnehmen sei«.
Die als undeutsche »Fußlümmelei« abgetane Sportart aus dem Vereinigten Königreich war bei vielen Gymnastikenthusiasten verpönt. Aus diesem Grund kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der Turnerbewegung, und nicht wenige Fußballbegeisterte organisierten sich in eigenen Vereinen. Am Beispiel München kann dies sehr gut aufgezeigt werden. Die bekanntesten Fußballvereine der bayerischen Hauptstadt, der Turn- und Sportverein München von 1860 auf der einen und der Fußball-Club Bayern München auf der andern Seite, gründeten ihre Fußballabteilungen beinahe zur selben Zeit. Obwohl zwischen den jeweiligen Vereinsgründungen offiziell 40 Jahre liegen.
Die Gründer des FC Bayern traten im Februar 1900 aus dem Männer-Turn-Verein München von 1879 aus, weil die Generalversammlung des Turnvereins den Beitritt zum Verband Süddeutscher Fußball-Vereine abgelehnt hatte. Kurzerhand wurde ein neuer Verein gegründet. Bei den Sechzigern wurde die Abteilung für Fußball im Jahre 1899 gegründet. Kleiner Wermutstropfen: Ein öffentliches Spiel fand erstmals im Juli 1902 statt. Die Bayern hatten schon zwei Jahre zuvor gegen den Münchner Fußball-Club von 1896 gespielt.
Die »schweren Jahre ab ’33« kommen erst noch. Die Gleichschaltung aller Sportvereine durch die Nationalsozialisten ist den traditionsbewussten Fans äußerst selten ein Spruchband wert. Eine Ausnahme ist der Umgang des organisierten Anhangs von Bayern München mit ihrem ehemaligen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer.
Der Verein für Leibesübungen aus Bochum trägt zwar im Namen die Jahreszahl 1848, hat aber eigentlich das Licht der Welt erst 1938 erblickt.
Bei einem mit dem FC Bayern in Fanfreundschaft verbundenen Club tief im Westen steht die Sonne der Aufklärung dagegen sehr tief. Der Verein für Leibesübungen aus Bochum trägt zwar im Namen die Jahreszahl 1848, hat aber eigentlich das Licht der Welt erst 1938 erblickt. Auf Anordnung des nationalsozialistischen Fachamts Fußball wurden der Turnverein 1848, der Turn- und Sportverein Bochum 1908 und Sportverein Germania 1906 Bochum zum VfL zusammengeschlossen.
Die Historikerin Christiane Eisenberg erklärte in der Taz, dass das Wort Leibesübungen eine »Verschmelzung von Sport, Turnen und paramilitärischen Manöverspielen« ausdrücke. Dieser Begriff, der hierzulande mit dem Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, der Dachorganisation des Sports in Deutschland von 1933 bis 1945, seinen stärksten Ausdruck fand, ist ein weiteres Stück deutscher Tradition, das bei bekannten Vereinen tief verwurzelt ist. Über 50 Sportvereine tragen den Namensbestandteil bis heute.
Unbeirrt von all diesen historischen Sachverhalten streiten sich Fans über Jahreszahlen. Dabei ist es so einfach. Bayer Leverkusen ist ein international operierender Plastikclub, aber nicht ohne Tradition. Die TSG Hoffenheim – im Mai 1945 erfolgte die Fusion des Turnvereins mit dem Fußballclub – ist ein Dorfverein, der es mit der großzügigen finanziellen Hilfe eines örtlichen Großinvestors in die Bundesliga geschafft hat, aber ebenfalls nicht ohne Tradition. Beinahe alle deutschen Fußballvereine haben – wenn nicht sogar in ihrem Namen – eine enge Verbindung mit der deutschen Historie. Dies gilt für die Vereine aus dem Osten der Republik ebenfalls, wenn auch durch die Vereinsumorganisationen der DDR etwas verdeckter.