24.10.2024
Pedro Almodóvar und der Weg in die Innnerlichkeit

Vagabundinnen der Nacht

Pedro Almodóvar lässt eine Kriegsreporterin auf der Schwelle zum Tod die Schönheit der Welt feiern. »The Room Next Door« ist ein Kammerspiel im brutalistischen Ambiente mit Julianne Moore und Tilda Swinton in den Hauptrollen.

Tiefes Rot, ozeanisches Blau, giftiges Grün und knalliges Gelb prägen Pedro Almodóvars neues Werk »The Room Next Door«, seinen ersten Spielfilm in englischer Sprache. Auch in diesem an der Ostküste der Ver­einigten Staaten angesiedelten Film bleibt der spanische Regisseur seinem extravaganten Geschmack bei Kostüm und Interieurs treu.

Allerdings bettet er die sakral leuchtenden Farben ins herbstlich warme Ambiente des Bundesstaats New York und zeigt die Außenwelt mit Vorliebe in Spiegelungen oder mehrfach gebrochen durch Fensterscheiben. Dazu drosselt er Geschwindigkeit und Sprunghaftigkeit seines sonst vor allem von Zufällen und überraschenden Wendungen geprägten Erzählstils merklich. Hier setzt sich eine Ent­wicklung in seinem Werk fort, in der das Schrille und Überzeichnete der Frühphase zugunsten des eher klassischen Melodramas abgelöst wird.

Bereits in »Alles über meine Mutter« (1999) machen sich deutliche Anleihen an sein erklärtes Vorbild ­Douglas Sirk (etwa »Was der Himmel erlaubt« von 1955) bemerkbar; spä­testens mit »La mala educación – Schlechte Erziehung« (2004) werden die melancholisch-autobiographischen Verweise stärker. Ihren vorläufigen Höhepunkt finden diese Reise in die Innerlichkeit und das zwischen Schmerz und eigenwilligem Humor entfaltete Lebensresümee in »Leid und Herrlichkeit« (2019), einem Vexierspiel mit der eigenen Vergangenheit.

Wenn es so weit ist, so die Abmachung, wird Ingrid Marthas Tür, die sonst immer offensteht, geschlossen vorfinden.

Mit »The Room Next Door«, der in diesem Jahr beim Filmfest von Venedig den Goldenen Löwen gewann, erreicht Almodóvar nun ein neue Phase, was den Verzicht auf Groteskes, Exzessives und Überbordendes in der Handlung angeht. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte der Film in seiner geradlinigen Inszenierung fast ein wenig behäbig wirken. Das ist jedoch angesichts seines Themas kaum verwunderlich, denn die Geschichte von Ingrid (Julianne Moore) und ihrer todkranken Freundin Martha (Tilda Swinton) lässt keine Kehrtwende mehr zu.

Zugunsten von mehr Wahrhaftigkeit verzichtet der Regisseur auf alles, was ihm überflüssig erscheint; der Fokus seiner Erzählung liegt ganz auf den beiden Protagonistinnen und ihren Gefühlen. Womit Almodóvar dann doch wieder zum Kern seines Filmschaffens vordringt. »Mein Ideal einer Geschichte ist eine Frau, die sich in einer Krise befindet«, hat er einmal zu Protokoll gegeben.

Die Handlung von »The Room Next Door« ist übersichtlich: Nach einer Phase des Ausprobierens im New York City der achtziger Jahre, wo alles von Bedeutung in der Nacht passiert ist, wie es einmal heißt, haben sich die Freundinnen Ingrid und Martha lange Zeit aus den Augen verloren. Während Martha als Kriegskorrespondentin durch die Welt vagabundierte, lebt Ingrid als Autorin in Manhattan.

Gebärmutterhalskrebs im Endstadium

Bei einer Signierstunde ihres neuen Buchs erfährt sie zufällig von einer Bekannten, dass Martha mit Gebärmutterhalskrebs im Endstadium in einem Krankenhaus in New York City liegt, wo sie die Freundin von einst besucht. Martha leidet genauso unter der Krankheit, die sie nicht besiegen kann, wie unter den Nebenwirkungen der fehlgeschlagenen Chemotherapie. Im Gespräch über den Schmerz, die Versäumnisse, aber auch über die gemeinsame Zeit entsteht schnell eine neue Innigkeit zwischen den Frauen.

Dann bittet Martha Ingrid, sie auf ihrer letzten Reise zu begleiten. Sie möchte die Umstände ihres Sterbens selbst bestimmen, wofür sie sich im Darknet ein todbringendes Medikament bestellt hat, aber sie möchte nicht völlig allein sterben. Deshalb lädt sie die Freundin in ein luxu­riöses Haus zwei Stunden außerhalb der Stadt ein, wo beide zwei getrennte Zimmer bewohnen und die letzten Tage Marthas mit Reden, Spaziergängen und Filmabenden verbringen werden. Wenn es so weit ist, so die Abmachung, wird Ingrid Marthas Tür, die sonst immer offensteht, geschlossen vorfinden.

Mit der in manchen Einstellungen fast durchscheinend wirkenden Blässe und einer Androgynität, die an den frühen David Bowie denken lässt, ist Tilda Swintons dem Publikum seit Jahrzehnten vertrautes Gesicht das ideale Medium, um Marthas Leiden wie ihre Entschlossenheit, ihr Wissen um ihre Möglichkeiten wie um ihre Grenzen anschaulich zu machen. Überblendungen, in denen ihr Gesicht in Großaufnahme im Licht der Umgebung zu vergehen scheint, oder eine Szene, in der sie sich durch das Auftragen eines roten Lippenstifts wie magisch verwandelt, nutzen die schauspielerischen Möglichkeiten virtuos.

Liebe und Sex nur noch in der Erinnerung

Als Kriegsreporterin ist Martha mit den Schrecken der Welt eigentlich ebenso vertraut wie mit den Möglichkeiten, die es gibt, um sie für den Moment zu bannen. Aber Liebe und Sex existieren für die Todkranke nur noch in der Erinnerung. Auch über ihre Versäumnisse in der Beziehung zu ihrer Tochter ist sich Martha im Klaren.

In der ersten Hälfte des Films werden Stationen ihres Lebens in für Almodóvar typischen Rückblenden erzählt, von denen eine wie ein kleiner, sehr US-amerikanischer Film im Film wirkt. Mit dem Einzug in die Villa im beeindruckend brutalistischen Architekturstil braucht es diese Erzählungen aus der Vergangenheit nicht mehr, gewinnen doch die Gespräche der beiden Frauen eine Tiefe, die ihre Gefühle füreinander, zum Leben, das sie gelebt haben, und zu dessen Endlichkeit auf fesselnde Art spürbar werden lassen.

Die von Julianne Moore gespielte Figur der Ingrid macht dabei insgesamt die größere Wandlung durch. Während Martha bereits weiß, was sie will und wie sie es erreicht, braucht Ingrid einige Zeit, sich dem Leid und der Vergänglichkeit zu stellen. Vor allem aber Marthas Wunsch, sie auf dem letzten Weg dabeizuhaben, verlangt ihr einiges ab.

Vortragsreisender in Sachen Klimawandel

In der Schilderung dieses Reifungsprozesses hält bald der Wahnsinn ­einer reglementierten und durch und durch eingerichteten Welt Einzug in den Film, um in kleinen Momenten von absurder Komik Funken zu schlagen. Etwa wenn der von Ingrid gebuchte Fitnesstrainer, der ihre Verzweiflung spürt und sie trösten will, erklärt, sie solle sich in den Arm genommen fühlen – selbstverständlich ist ihm die physische Berührung einer Kundin laut Arbeitsvertrag streng verboten.

Mit Damian (John Turturro), einem ehemaligen Liebhaber aus der wilden New Yorker Zeit, der mit beiden Frauen eine Affäre hatte, taucht eine weitere Nebenfigur in dem ansonsten ganz auf die beiden Frauen fokussierten Film auf. Inzwischen ist er als Vortragsreisender in Sachen Klimawandel und bevorstehendem Untergang der Welt unterwegs. Den Kontakt zu Ingrid hat er über die Jahre gehalten.

Während Martha sogar in der Tragödie des eigenen Untergangs in der Lage ist, in Dichtung, Buster-Keaton-Filmen oder plötzlichem Schneefall die Schönheit der Welt zu erkennen, muss Ingrid dem pessimistischen Damian seine verbiesterte Fokussierung auf die Übel der Gegenwart vorwerfen.

Als die beiden besprechen, wie sie sich vor rechtlichen Konsequenzen, die aus ihrer Gegenwart bei Marthas Freitod für sie entstehen könnten, schützen soll, versucht er, immer noch resigniert mit ihr zu flirten. Während Martha sogar in der Tragödie des eigenen Untergangs in der Lage ist, in Dichtung, Buster-Keaton-Filmen oder plötzlichem Schneefall die Schönheit der Welt zu erkennen, muss Ingrid dem pessimistischen Damian seine verbiesterte Fokussierung auf die Übel der Gegenwart vorwerfen.

Aus Wut über die Rechtsentwicklung in der Politik, den Neoliberalismus und die ökologischen Verheerungen habe er jedes Empfinden für das verloren, was es brauche, um trotz allem weiterzuleben. An der Willenskraft ihrer Freundin ist sie spürbar gewachsen.

The Room Next Door (Spanien 2024). Buch und Regie: Pedro Almodóvar. Darsteller: Tilda Swinton, Julianne Moore, John Turturro