24.10.2024
Das Ritual regelmäßiger COP-Konferenzen verhindert das Artensterben nicht

Ökologische Neujahrsvorsätze

Auch dieses Jahr treffen sich Vertreter von knapp 200 Staaten zu einer Konferenz, um sich Ziele beim Artenschutz zu setzen, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht werden einhalten können, solange Raubbau und Monokulturen vorherrschen.

Am 21. Oktober beginnt im kolumbianischen Cali die 16. Konferenz (COP 16) der Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (UNCBD). Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen bei diesem Treffen prüfen, welche Auswirkungen der sogenannte globale ­Biodiversitätsrahmen gezeitigt hat, der auf der COP 15 im Dezember 2022 in Montreal beschlossen worden war.

An der Konferenz in Cali nehmen die 196 Vertragsstaaten des Übereinkommens teil. Auf der Tagesordnung finden sich neben administrativen Fragen Themen wie Wildtiermanagement, die Ausbreitung invasiver Arten sowie die biologische Vielfalt der Meere, der Küsten und Inseln. Das Treffen steht unter dem Motto »Frieden mit der Natur« und findet in einem Land statt, dessen Gebiet Regionen am Amazonas, am Pazifik und an der Karibik umfasst und das somit als artenreich angesehen wird. Allerdings gilt auch hier eine große Zahl an Pflanzen- und Tierspezies als bedroht.

Die EU-Kommission, die sich weltweit als Vorreiter in Sachen Biodiversität präsentiert, hat nach den Bauernprotesten Anfang des Jahres ihre Ambitionen in Europa deutlich gezügelt.

Sowohl Greenpeace als auch der World Wildlife Fund (WWF) kritisieren, dass die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen nicht erfüllten. Nur 25 der 195 der Länder hätten nationale Biodiversitätsstrategien ausgearbeitet, moniert Greenpeace, das sei ein besorgniserregendes Zeichen, urteilt der WWF. Auch Deutschland ist unter der Mehrheit der Länder, die im vergangenen Jahr keine Strategie entworfen haben; »deswegen reist Deutschland jetzt mit leeren Händen zur Konferenz«, schreibt Greenpeace Deutschland. An den Plänen, die manche Staaten veröffentlicht haben, rügt der WWF, dass keine klaren Schritte formuliert würden, an denen sich die politisch Verantwortlichen bei einer zukünftigen Bewertung messen lassen müssten. Es mangele am Ehrgeiz, manchen Staaten fehlten aber schlicht die Ressourcen, sagte die WWF-Sprecherin Bernadette Fischler Hooper.

Greenpeace verweist darauf, dass 28 Regierungen zugesagt hatten, für den Erhalt der biologischen Vielfalt bis 2025 insgesamt mindestens 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr aufzuwenden. Damit sollten weltweit mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen der Welt unter Naturschutz gestellt werden. Allerdings hielten sich die Politiker nicht an dieses Versprechen. So hätten 23 von 28 Ländern weniger als die Hälfte des zugesagten Betrags gezahlt, so dass zum Erreichen der zugesagten Summe etwa 11,6 Milliarden Dollar fehlten. Bei der Ausweisung von Schutzflächen rangiert Deutschland im EU-Ländervergleich auf dem drittletzten Platz, vor Dänemark und Belgien.

Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit an oberster Stelle

Es ist das bekannte Spiel. Auf internationalen Konferenzen werden wohlklingende Beschlüsse gefasst, aber den Worten folgen kaum Taten. Allein der Umstand, dass die Biodiversitätskonvention schon mehr als drei Jahrzehnte alt ist und die Regierungen in Cali erneut über Fragen der Umsetzung verhandeln wollen, führt vor Augen, dass das weltweite Artensterben durch solche Konferenzen nicht aufgehalten werden kann. Die Konvention wurde auf dem hochgelobten Erdgipfel von Rio im Juni 1992 unterzeichnet, schon damals bemäntelte die Teilnahme der Umweltverbände eher die Ignoranz der Regierungen.

Wenn Greenpeace und der WWF dennoch auf positive Ergebnisse in Cali hoffen, ist das allenfalls Zweckoptimismus. Die EU-Kommission, die sich weltweit als Vorreiter in Sachen Biodiversität präsentiert, hat nach den Bauernprotesten Anfang des Jahres ihre Ambitionen in Europa deutlich gezügelt. Aufgrund des Drucks rechtsextremer und konservativer Parteien wurde der angekündigte European Green Deal entschärft; aber auch in der ursprünglichen Fassung, etwa im Programm »Fit for 2055«, das zum Ziel erklärt hatte, bis 2030 die Emission von Treibhausgasen um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken, standen Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit an oberster Stelle.

Beides wiederum erfordert einen ständig steigenden Verbrauch von Energie, Rohstoffen und Flächen, denn die Gewinne des Kapitals fallen nicht vom Himmel. Deshalb bilanziert die Internationale Energieagentur (IEA) Jahr für Jahr einen neuen Rekord beim weltweiten Verbrauch fossiler Energien und stellte bereits fest, dass eine simple Umstellung auf Elektroautos und erneuerbare Energien, wenn sie überhaupt möglich wäre, den Bedarf an metallischen Rohstoffen gigantisch steigern würde. Die westlichen Staaten und China wollen deshalb den Boden der Tiefsee plündern.

Atempause nur, wenn die Wirtschaft schrumpft

Eine Atempause für die Natur gibt es nur, wenn die Wirtschaft schrumpft, etwa während der Wirtschaftskrise 2008 oder in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie 2020. Ansonsten geht der Raubbau weiter. Dem »Living Planet Report 2024« des WWF und der Zoologischen Gesellschaft London über den Zustand von mehr als 5.500 Wirbeltierarten ist zu entnehmen, dass die rund 35.000 untersuchten Populationen, darunter Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien, in den vergangenen 50 Jahren um durchschnittlich 73 Prozent geschrumpft sind. Dem Bericht zufolge hat sich das Artensterben weiter beschleunigt, allen Absichtserklärungen von Regierungen zum Trotz.

Die Ursachen sind dem WWF zufolge menschengemacht, sie bestünden in der Veränderung bis völligen Zerstörung von Habitaten durch Landwirtschaft, Holzeinschlag, Straßenbau oder Flächenverbrauch für Siedlungen und Gewerbe, Bergbau und Energieversorgung. Flüsse und Bäche werden durch Begradigungen und Staudämme geschädigt. Dazu kommen Pestizide, Chemikalien, Plastik und Öl, die nicht zuletzt Gewässer und Meere vergiften beziehungsweise unbewohnbar machen. Dem Living Planet Index zufolge liegt der durchschnittliche Rückgang von Süßtierwasserarten während der 50 Jahre von 1970 bis 2020 bei weltweit bei 85 Prozent.

Von einem Rückgang in den überwachten Wildtierpopulationen sind besonders Lateinamerika und die Karibik betroffen, dort liegt der Rückgang der Wildtierpopulationen im selben Zeitraum sogar bei 95 Prozent, in Afrika bei 76 Prozent, während Europa und Zentralasien (35 Prozent) und Nordamerika (39 Prozent) besser abschneiden. In der Region Asien und Pazifik liegt der Rückgang bei 60 Prozent. Die höheren Raten in Lateinamerika und Afrika haben ihre Ursachen »in anderen Regionen«, etwa in Europa, das auf Importe aus »naturreicheren Regionen« angewiesen sei, um den Konsum der eigenen Bevölkerung zu decken, heißt es in dem Report. Im Amazonas-Gebiet könnte ein Kipppunkt erreicht werden, wenn 20 bis 25 Prozent des Regenwalds verloren sind, bislang sind es nach Angaben des WWF bereits zwischen 14 und 17 Prozent. Aus dem Regenwald, der zehn Prozent aller Arten weltweit beherbergt, darunter zehn Prozent aller bekannten Fischarten, würde eine Savanne, offenes Grasland.

Miserable Lage auch in Deutschland

Doch miserabel ist die Lage auch in Deutschland. Ende September legten mehr als 150 Wissenschaftler:innen den »Faktencheck Artenvielfalt« vor. Dem Report nach sind hierzulande rund 10.000 Arten in ihrem Bestand gefährdet, vor allem Insekten, Weichtiere und Pflanzen. Insbesondere die industrielle Landwirtschaft wirke sich negativ auf fast alle Lebensräume aus, nicht bloß auf Äcker und Wiesen. Der Zustand von 63 Prozent der Lebensraumtypen unter dem Gesichtspunkt der Artenvielfalt ist schlecht, zu den wenigen mit positivem Trend gehören eigentlich die Laubwälder, genauer die Buchenwälder. Aber diese wurden in den Jahren 2018 bis 2020 durch Dürre und Hitze infolge des Klimawandels geschädigt.

Die Forderungen der Autoren des Faktenchecks sind jedoch wenig zielführend. Die Naturschutzökologin Nina Farwig, Professorin an der Universität in Marburg, verlangt dem Bericht zufolge, man müsse »ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanzieren«. Es gelte, neue »biodiversitätsbasierte Landnutzungssysteme« zu entwickeln, wobei moderne Technologien helfen könnten. Besser und transparenter wäre, jeden weiteren Flächenverbrauch zu beenden und Flächenrecy­cling zu praktizieren oder auf ökologische Landwirtschaft umzusteigen, wie es Umweltverbände seit langem fordern. Das Statistische Bundesamt bezifferte allein den Flächenverbrauch für Siedlungen und Verkehr im Jahr 2022 in Deutschland auf 55 Hektar pro Tag.

So konformistisch diese Wissenschaftler:innen denken mögen, so sehr ihr Konzept der Ökosystemdienstleistungen auf die optimale Vernutzung von Natur im Rahmen der Kapitalismus zielt, beschreiben sie dennoch den Kern des Problems zutreffend: Artenarme Monokulturen in der Land-, Forst- und Fischwirtschaft sind instabil und bedürfen eines hohen Einsatzes an Energie und Chemie, um aufrechterhalten zu werden, der langfristig jedoch die Grundlage, den Boden und das Wasser zerstört. Artenvielfalt hingegen dient dem Überleben des Menschen auf diesem Planeten. Dazu gehören die Versorgung mit Nahrung und Rohstoffen, die Aufrechterhaltung von Nährstoffkreisläufen von der Zersetzung von Abfall bis zur Bestäubung von Blüten, der Klimaschutz, der Rückhalt von Wasser in der Landschaft und der Küsten- und Erosionsschutz – aber das scheint eine Gesellschaft zu erfordern, die den Stoffwechsel mit der Natur rational statt destruktiv und planmäßig statt marktorientiert reguliert.