17.10.2024
Donald Trump als Phänomen von Post- und Hyperpolitik

Post, Hyper, Anti

Die Wahlentscheidung zwischen Kamala Harris und Donald Trump erscheint immer mehr als performativer Akt, bei dem es mehr um identitäre Selbstzuordnung als um politische Inhalte geht.

Donald Trump tritt an, um erneut Präsident der USA zu werden, in der EU regieren vermehrt Rechtspopulisten und die Rechtsextremisten erstarken. Was sind die Ursachen dieses rechten Aufschwungs und was könnte ihn aufhalten? Lars Quadfasel stellte zunächst fest, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus und seiner Protagonisten vom Format Donald Trump keine Besonderheiten der USA darstellen. Georg Seeßlen beschrieb den Erfolg Donald Trumps als Ausdruck der dunklen Seite des Amerikanischen Traums (36/2024). Jörg Finkenberger analysierte das Erstarken des Rechtspopulismus als Folge der Krise bürgerlicher Politik, die auch die Sozialdemokratie längst erfasst hat (38/2024). Robert Feustel riet zu einem souveränen Umgang mit rechtspopulistischen Lügen (39/2024).

*

Die Frage nach den Ursachen von Donald Trumps politischem Erfolg lässt sich auf viele Weisen beantworten, nicht vergessen werden sollten die handfesten Vorteile, die er bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl genießt. Da wäre zunächst einmal das indirekte Wahlsystem der USA, in dem man auch Präsident:in werden kann, ohne die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich zu vereinen. 2016 erhielt Trump fast drei Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton und ging dennoch als Sieger hervor.

Dann wären da die zahlreichen von den Republikanern erlassenen Gesetze auf bundesstaatlicher Ebene, die Bevölkerungsgruppen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit für die Demokraten stimmen, die Teilnahme an der Wahl erschweren oder sie gleich ganz ausschließen. Dem Brennan Center zufolge werden »in mehr als der Hälfte aller Staaten Millionen von Wählern mit Hürden konfrontiert sein, die ihnen bei einer Präsidentschaftswahl noch nie zuvor begegnet sind«. Die meisten dieser Gesetze schränken die Briefwahl ein, andere reduzieren die Zahl der Wahllokale insbesondere in Wohngegenden von Minderheiten.

Trump bietet Partizipation an der Gesellschaft gegen die Gesellschaft.

Doch auch wenn Trump diese Wahl nicht gewinnen sollte: Dass überhaupt eine signifikante Zahl von Menschen für einen Kriminellen stimmen will, der in vielen Lebensbereichen mehrfach krachend gescheitert ist und der höchstens aus Versehen die Wahrheit sagt, ist für sich genommen schon bemerkenswert.

Eine Erklärung wäre, dass sich die Menschen schlicht und ergreifend nach autoritärer Herrschaft sehnen. Immerhin spricht Trump ganz offen davon, Diktator für einen Tag sein zu wollen, und fabuliert, offenbar inspiriert von dem Film »The Purge«, über einen einzigen »sehr gewaltvollen Tag«, der das Problem der Kriminalität lösen würde. Ausdruck eines totalitären Wahrheitsanspruchs ist auch der Name seiner eigenen Social-Media-Plattform Truth Social. Wie die »Prawda« – nur halt auf Englisch.

Ende der Geschichte, Ende der Politik?

Man kann auch versuchen, das Phänomen Trump mit Slavoj Žižek zu erklären. Dieser sprach im Jahr 2000 mit Bezug auf den Erfolg der FPÖ von »Postpolitik«. Nach dem von Francis Fukuyama verkündeten »Ende der Geschichte« war nach Žižeks Auffassung auch die Politik an ihr Ende gekommen, weil es keine wirklichen Gegensätze und keine tragfähigen, geschweige denn radikalen politischen Projekte mehr gebe, die den Kapitalismus in Frage stellen würden. An ihre Stelle seien Sachzwänge und quasitechnokratischer Pragmatismus getreten. Jacques Rancière und Chantal Mouffe schlugen in eine ähnliche Kerbe. An sie anschließend könnte man Trumps Aufstieg als eine Reaktion auf diese Postpolitik und gleichsam als die Rückkehr des Politischen verstehen.

Tatsächlich war die Wahlbeteiligung 2020 so hoch wie zuletzt im Jahr 1900. Selbst auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs und der Studierendenproteste gingen anteilig weniger Menschen zur Wahl. Fast 22 Millionen Wahlberechtigte mehr als 2016 gaben 2020 ihre Stimmen ab, während die Zahl der potentiell Wahlberechtigten nur um rund acht Millionen gestiegen war. Obwohl Trump die Wahl diesmal verlor, erhielt er neun Millionen Stimmen mehr als vier Jahre zuvor.

Auch der belgische Historiker Anton Jäger sieht das Zeitalter der Postpolitik überwunden. In einem Essay aus dem vergangenen Jahr beschrieb er die politische Gegenwart als »Hyperpolitik«. Vereinfacht gesagt besteht seine These darin, dass heutzutage alles Erdenkliche politisch aufgeladen werde, daraus aber selten bis nie tatsächliches politisches Handeln resultiere. Wenn man sich diesen Gedanken zu eigen machen möchte, könnte man das Stimmen für Trump als eine hyperpolitische Form der Meinungsäußerung verstehen, die in der Regel mit keinerlei Beteiligung an politischen Prozessen jenseits der Wahl einhergeht.

Mobilisierung an der extrem rechten Basis

Dieser Vorstellung steht jedoch die Tatsache entgegen, dass es in den vergangenen Jahren eine nicht unerhebliche Mobilisierung an der extrem rechten Basis gegeben hat. So zählte das Southern Poverty Law Center von 2022 auf 2023 einen deutlichen Zuwachs bei der Zahl sowohl der regierungsfeindlichen Milizen als auch der rassistischen und queerfeindlichen Gruppen.

Eventuell ist also der Begriff Antipolitik des bekannten ungarischen Essayisten György Konrád passender. Dieser wandte ihn 1986 gegen eine autoritäre, von oben verordnete Politik der wenigen. Dieser setzte er das von unten kommende soziale Engagement der vielen entgegen. Dabei dachte er in erster Linie an seine staatssozialistische Heimat Ungarn.

Würde man heutzutage jedoch Anhänger:innen Trumps fragen, so würden sie das politische System der USA wahrscheinlich ganz ähnlich beschreiben. Einige wenige im fernen Washington entscheiden und sie selbst können, weil sie nicht Teil des politischen Apparats sind, nichts dagegen tun. Trump als inkarnierter Volkswille verspricht, das zu ändern, den »Sumpf trockenzulegen« und die komplizierte Politik des Kongresses durch direktes Handeln zu ersetzen. Durchschnittlich 55 präsidentielle Verordnungen (»executive orders«) pro Jahr hat er während seiner Amtszeit erlassen – mehr als jeder andere Präsident seit Jimmy Carter.

Du wählst, was du bist

Vielleicht ist es aber auch schlicht falsch, den Aufstieg Trumps politisch verstehen zu wollen. Immerhin geht es bei Wahlen bestenfalls indirekt um Politik im engeren Sinne. Der Akt des Wählens ist vielmehr ein performativer Ausdruck der eigenen Identität. Du wählst, was du bist. Trump – egal ob beabsichtigt oder nicht – bedient dieses Bedürfnis wie niemand vor ihm in der Politik. Und als Reaktion darauf haben sich auch die Demokraten von allzu viel störenden Inhalten befreit. »Just vibes« ist das Motto der Stunde, und dabei unterscheidet sich das Selbstbild derer, die für Trump sind, nur unwesentlich von dem jener, die gegen ihn sind: Beide wollen das Land gegen ein absolut Böses verteidigen. Nur darin, wer dieses Böse ist, sind sie verschiedener Ansicht.

Es ist, als hätte man sich nach der Beliebigkeit der Postmoderne wortlos darauf geeinigt, dass es endlich wieder um etwas gehen müsse. Ein wenig Ragnarök, ein bisschen Apokalypse. Alles ist besser als ein aus längst nicht mehr funktionalen Provisorien zusammengenageltes System durch immer neue Gesetze und Behörden und Richtlinien und Ausnahmen von diesen Richtlinien um immer weitere Komplikationen zu erweitern, die kein Mensch allein jemals wird überblicken, geschweige denn verstehen können.

Kamala Harris bietet konkrete Zahlen für Steuererleichterungen und Konjunkturpakete. Sie bietet konkrete Vorschläge für so ziemlich jedes Politikfeld. Doch genau das ist das Problem. Alles, was konkret ist, kann auch kritisiert werden. Trump dagegen spricht lieber von »Konzepten eines Plans«, und seine heißgeliebte Mauer war zu keinem Zeitpunkt eine Mauer, sondern immer nur ein etwas stabilerer Zaun. Selbst seine sehr konkrete Drohung, bis zu 20 Millionen Menschen zu deportieren, ist nur heiße Luft, weil sie schlicht nicht umsetzbar ist, sofern man die Wirtschaft nicht mit Anlauf in eine Rezession stoßen möchte.

Partizipation an der Gesellschaft gegen die Gesellschaft

Nichts, was Trump sagt, hat wirklichen Gehalt. Das hat den enormen Vorteil, dass niemand durch allzu viel Greifbares abgeschreckt werden kann. Jede:r kann sich ganz nach persönlichem Belieben zusammenträumen, was Trump nach der Wahl machen wird. So träumen die einen von großflächigen Erschießungen politischer Gegner:in­nen, während andere sich nicht mehr erhoffen, als noch weniger Steuern auf ihr Millioneneinkommen zahlen zu müssen oder ihre Maschinengewehre behalten zu können.

Trump bietet Partizipation an der Gesellschaft gegen die Gesellschaft. Diese kollektive Atomisierung ist ein glückseliges Zurückfallen in die mechanische Solidarität der Gemeinschaft im Sinne Émile Durkheims. Man weigert sich, sich mit denjenigen Teilen der Gesellschaft zu befassen, die andere Vorstellungen haben als man selbst, indem man sie kurzerhand aus der an die Stelle der Gesellschaft tretenden Gemeinschaft ausschließt. Hygge für Menschen, die sich gerne mit Mauern zudecken.

Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han sprach 2023 von einer Krise der Narration. Die Geschichten, die einander erzählt werden, ergeben keinen Sinn mehr. Es gibt kein digitales Lagerfeuer. Was zählt, sind Storys, die sich verkaufen lassen, ganz egal, was sie erzählen. Und Trump verkauft sich besser als jede:r andere.