17.10.2024
Jan Rathje, Politologe, im Gespräch über die Verbindungen zwischen Qanon-Kult und Reichsbürgern

»Erlösung durch eine fremde Macht«

Der verschwörungstheoretische Online-Kult Qanon sieht Donald Trump als Erlöser, der satanistische Machtzirkel bekämpft, in denen Kinderblut getrunken werde. Die Neuauflage antisemitischer Ritualmordlegenden findet nach wie vor Anhänger: Einschlägige Telegram-Kanäle zählen über 100.000 Abonnenten. Auch im größten Terrorverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik, dem Prozess gegen die Reuß-Gruppe, spielt Qanon eine wichtige Rolle. Die »Jungle World« sprach mit dem Politikwissenschaftler Jan Rathje, der sich mit den Überschneidungen zwischen Qanon-Kult und Reichsbürgern befasst.

Pädophile Eliten, Adrenochrom zur Verjüngung und Trump als Erlöser – wie haben die Leitgedanken der Qanon-Verschwörungserzählung zusammengefunden?
Qanon ist im Oktober 2017 aus zwei jüngeren US-amerikanischen Verschwörungserzählungen entstanden: »Pizzagate« und »Q-Drops«. »Pizza­gate« handelt von einem angeblichen Pädophilenring führender Politiker der Demokratischen Partei in den USA, die im Keller einer Pizzeria Kinder misshandelt haben sollen. Die zweite Erzählung geht auf Beiträge zurück, die Ende Oktober 2017 auf dem zur anonymen Verbreitung von Bilden und Texten genutzten Imageboard 4chan veröffentlicht wurden. Ein anonymer User stieß dort eine Diskussion an, indem er oder sie behauptete, die Verhaftung von Hillary Clinton stehe unmittelbar bevor. Der User unterschrieb seine Postings mit »Q« oder »Q Clearance Patriot«, womit er auf eine Sicherheitsfreigabe des US-Energieministeriums anspielte. Aus solchen kryptisch formulierten sogenannten Q-Drops entstand dann die Erzählung von Trump als Kämpfer gegen den deep state, pädophile Satanisten, die angeblich im Geheimen die USA kontrollieren.

Aber seit Dezember 2020 sind keine neuen Q-Drops erschienen …
Das braucht es auch gar nicht mehr. Qanon hatte von Anfang an eine interaktive Komponente: Anhänger gingen selbst auf eine Art Schnitzeljagd nach vermeintlichen Akteuren des deep state und interpretierten die Welt im Sinne der Qanon-Verschwörungsideologie. Das passiert heute noch in den einschlägigen Kanälen. Die Q-Drops waren nur wichtig, um dieses Spiel überhaupt erst loszutreten.

»Problematisch ist, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Reichsbürger und Qanon-Anhänger als Verrückte gelten, aber Rassismus und Antisemitismus haben eben eine wahnsinnige Komponente.«

Die Qanon-Szene in Deutschland ist eine der größten nach den USA. Auf den »Querdenken«-Demonstrationen 2020 waren Q-Symbole omnipräsent. Inzwischen sieht man solche Zeichen seltener. Verliert die Szene hier an Bedeutung oder wurden die Aktivitäten einfach ins Internet verlagert?
Es hat sich nicht ins Internet verlagert, die Szene ist eher dahin zurückgekehrt. Was man nicht vergessen darf: Qanon hat als Internetphänomen angefangen. Bedeutende Kanäle wie »Lion Media« oder »Qlobal Change« haben immer noch hohe Reichweiten auf Telegram. Dort wird das Weltgeschehen durch die Qanon-Brille interpretiert. Die Anhängerschaft ist zwar längst nicht mehr so groß wie 2020, aber man sollte die Szene nicht kleinreden. Auch bei der Reuß-Gruppe finden sich Qanon-Anteile.

Die Reuß-Gruppe, die mutmaßlich putschen und das Kaiserreich wieder errichten wollte, wird den Reichsbürgern zugeordnet. Welche Rolle spielt der Qanon-Glaube bei der Gruppe?
Im Kern ist sie eine Reichsbürger-Gruppe. Offenbar hat sie eine »Reaktivierung« des Deutschen Reichs von 1871 angestrebt, das deckt sich mit dem Ziel bestimmter Reichsbürger. Der ehemalige Bundeswehroberst Maximilian Eder hingegen scheint eher von Qanon beeinflusst zu sein. Zum Beispiel unterstellt er Politiker:innen sexuellen Kindesmissbrauch und wollte sie dafür mit der Gruppe zur Verantwortung ziehen.

In Deutschland hat der Qanon-Glaube bei Reichsbürgern rasch Beliebtheit erlangt.
Reichsbürger haben schon früh Inhalte von Qanon in Deutschland verbreitet. Ein Beispiel ist Hans-Joachim Müller. Der ehemalige Bürgerrechtsaktivist bewegte sich ab Mitte der 2010er Jahre noch im Umfeld von AfD und Pegida, wandte sich dann aber immer mehr der Reichsideologie zu. Dabei verwendete er zunehmend Elemente der Qanon-Ideologie, ihrerseits griffen Qanon-Kanäle seine Inhalte auf. Müller betrieb zeitweilig eine der größten Qanon-Facebook-Gruppen weltweit. In einer Kurzvideoreihe zur Weltlage, die Müller kurz vor der Pandemie, Ende 2019 startete, erklärte er, dass Trump angetreten sei, um die Deutschen von der »Fremdherrschaft« zu befreien. Während der Pandemie gewann sein Netzwerk rasant an Popularität innerhalb der Querdenken-Proteste.

Wie erklärt sich das? Traditionell haben Reichsbürger, die sich unter Fremdherrschaft in einem besetzten Land wähnen, doch eher ein distanziertes Verhältnis zu den USA.
Qanon ermöglichte eine positive Bezugnahme auf die US-Streitkräfte. Dadurch verkörperten die USA gleichzeitig das Gute und das Böse: Der »gute« Trump gegen den »bösen« deep state – das bietet die Möglichkeit, den Antiamerikanismus beizubehalten und sich trotzdem mit der US-amerikanischen Besatzungsmacht zu identifizieren. In Bezug auf die Nato-Übung »Defender 2020« vor vier Jahren entwickelte sich zum Beispiel die Erzählung, die US-Truppen seien in Wahrheit gekommen, um Deutschland »zu befreien«.

Worin besteht die Nähe zwischen diesen Erzählmodellen?
Ich sehe vor allem drei Überschneidungen. Erstens die Bezugnahme auf Kindesentführungen. Zweitens gleicht sich die Vorstellung vom liberalen Staat als Garant der »Fremdherrschaft« über das »Volk«. Die dritte Gemeinsamkeit ist die Vorstellung einer Erlösung durch eine fremde Macht. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten ließ sich die Reichsbürger-Ideologie einfach um Qanon-Elemente erweitern.

Bei Qanon ist es die böse »Kabale«, der Kindesraub unterstellt wird. Welche Entsprechung gibt es bei den Reichsbürgern?
Die Angst vorm »Kinderklau« existiert in dem Milieu schon lange: Die von Eltern als große Ungerechtigkeit erlebte Inobhutnahme von Kindern durch das Jugendamt diente gelegentlich als Auslöser, sich auf das Milieu zuzubewegen.. Qanon schmückt diese Erzählung mit pädophilen, satanistischen Eliten und Adrenochrom weiter aus.

Inwiefern gleicht sich Vorstellung einer vermeintlichen »Fremdherrschaft«?
Reichsbürger behaupten, die BRD sei ein Okkupationsregime oder lediglich eine Firma, die BRD GmbH. Der deep state ist so gesehen eine Variation davon. Ähnliche Behauptungen findet man auch im rechtsextremen Milieu, zum Beispiel bei Neonazis, die von einer »Judenrepublik« reden. Wichtig ist die Trennung vom Fremden und Eigenen.

Die große Erlöserfigur bei Qanon ist Donald Trump, der jetzt wieder als Präsidentschaftskandidat der Republikaner in den USA antritt. Wieso Trump?
Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Manchmal wird seine deutsche Familiengeschichte dafür herangezogen. Es dürfte damit zusammenhängen, dass innerhalb des Reichsbürger-Milieus die Unterzeichnung eines mutmaßlich fehlenden Friedensvertrags durch die ehemaligen Alliierten des Ersten oder Zweiten Weltkriegs für die volle Souveränität Deutschlands eine sehr wichtige Rolle spielt. Da eignet sich der Donald Trump aus den »alternativen« Medien und vor allem aus der Qanon-Verschwörungsideologie sehr als Projektionsfläche. Eine solche Rolle spielte und spielt allerdings auch Wladimir Putin.
Darüber hinaus gibt es im Reichsbürger-Milieu seit Jahrzehnten die Vorstellung von einer befreienden, externen »Dritten Macht«. Sie richtete sich der Erzählung zufolge sowohl gegen den US-amerikanischen Kapitalismus als auch gegen den Sozialismus der UdSSR. Der Idee nach handelte es sich um Nationalsozialisten, die den Alliierten Richtung Südpol entkommen konnten, nach »Neuschwabenland«. Dort sollten sie sich versteckt halten, um irgendwann zurückzukehren und die Deutschen zu befreien. Auch diese Vorstellung scheint in der mutmaßlichen Gruppe existiert zu haben.

Die Reuß-Gruppe erhoffte sich, zumindest gemäß der Anklageschrift, gar Unterstützung aus dem Weltall.
Hin und wieder spielten in Variationen dieser Erzählung auch Aliens eine Rolle. Schon der vor zehn Jahren verstorbene Verschwörungserzähler Axel Stoll vermutete die Herrenrasse auf dem Stern Aldebaran. Die Reuß-Gruppe ging von einer galaktischen Allianz aus.

Hat diese »Allianz« noch eine weitere Funktion?
Sie dient offenbar auch dazu, Verantwortung zu externalisieren. So wird vor Gericht argumentiert, man habe für den Putschbeginn auf ein Signal der Allianz gewartet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die nicht auch wirklich daran geglaubt haben. In der Anklageschrift heißt es, die Gruppe wartete nicht nur auf eine Befreiung von außen, sondern baute auch eigene Strukturen auf.

Zum Beispiel durch das Horten von Waffen, Munition und Gold. Gerade rechtslibertäre Kreise haben eine Schwäche für das Edelmetall. Gibt es auch dorthin Verbindungen?
Punktuell gibt es sie zwischen Rechts­libertären und souveränistischen Reichsbürgern. Bei der Reuß-Gruppe zeigt sich das an der Verbindung zum Crash-Propheten Markus Krall, kurzzeitig Mitglied der Werteunion. Laut Medienberichten soll Krall Kontakt zu Prinz Reuß gepflegt und Mitglied einer ersten souveränistischen Gruppierung Reuß’ gewesen sein.

Rechtslibertäre treten für einen radikal freien Markt ein. Wieso sollte man sich für ein Kaiserreich begeistern können?
Für Leute, die keine Steuern zahlen wollen, können solche Ideologien interessant sein. So ein »Nachtwächterstaat Deutsches Reich« scheint für manche offenbar attraktiver zu sein als die Bundesrepublik. Wenn umgekehrt Qanon-Reichsbürger über eine neue Wirtschaftsordnung sprechen, gibt es ebenfalls Überschneidungen: Große Gold- und Silberreserven hat die Reuß-Gruppe auch nicht zufällig angehäuft. Die Idee einer jüdischen Macht hinter dem Fiatgeld (im Gegensatz zum Warengeld, dessen Wert durch die Eigenschaft des Trägers – etwa Gold – garantiert erscheint; Anm. d. Red.) und den Zentralbanken oder die Angst vor dem Systemkollaps dürfte wohl auch dort eine Rolle gespielt haben.

Der Öffentlichkeit ist bisweilen schwer vermittelbar, welche handfeste Gefahr von diesen abstrusen Zusammenhängen ausgeht.
Problematisch ist, dass in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung Reichsbürger und Qanon-Anhänger immer noch als Verrückte gelten, aber Rassismus und Antisemitismus haben eben immer auch eine wahnhafte Komponente. Äußerlich ähneln sie dem Bevölkerungsdurchschnitt, sind teils über 60, manchmal finden sich unter ihnen eben auch Elitesoldaten, wie bei der Reuß-Gruppe. Das ist die Ambivalenz dieser Geschichten.

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Jan Rathje

Jan Rathje, Cemas

Bild:
Cemas

Jan Rathje ist Politikwissenschaftler und Senior Researcher bei Cemas (Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH). Sein Studium absolvierte er in Potsdam und Greifswald und war für die mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein und die Amadeu-Antonio-Stiftung tätig. 2017 erschien sein Buch »Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen«. Ein Beitrag über die Entstehung der Mischform der »Qanon-Reichsbürger« wird in Kürze in einem Sammelband erscheinen.