Sieg der Opposition
Die Autonomierechte von Jammu und Kaschmir sind nunmehr offiziell wiederhergestellt. Eine am 13. Oktober veröffentlichte Mitteilung des indischen Innenministeriums gibt die Aufhebung der Beschlüsse bekannt, die Indiens Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) im August 2019 zur Freude seiner Anhänger und zum Schrecken vieler anderer verkündet hatte: Der vormalige Unionsstaat Jammu und Kaschmir verlor damals nicht nur seine weitgehenden Autonomierechte, die bis dahin der Verfassungsartikel 370 garantierte, sondern auch seinen Status und die territoriale Einheit.
Das Gebiet im äußersten Norden Indiens wurde in zwei von der Zentralregierung verwaltete Unionsterritorien gegliedert, die buddhistisch geprägte Teilregion Ladakh wurde abgetrennt. Ein funktionstüchtiges Regionalparlament hatte es da schon seit einigen Monate nicht mehr gegeben, nachdem die damalige Regierungskoalition zerbrochen war und zuletzt der vom Zentralstaat bestellte Gouverneur die Regierungsgeschäfte geführt hatte.
Im Dezember hatte das Oberste Gericht Indiens zwar bestätigt, dass der Entzug der Regionalautonomie rechtens war, aber zugleich auch Wahlen für das Parlament von Jammu und Kaschmir angeordnet.
Seit Jahrzehnten ist keine indische Region stärker militarisiert als Jammu und Kaschmir, immer wieder kommt es zu Gewaltakten.
Diese fanden erstmals seit 2014 in drei Runden am 18. und 25. September sowie am 1. Oktober statt – und brachten der BJP die erwartete Niederlage, die vor allem ein Denkzettel für die Entscheidung von 2019 war. Zwar blieb die Wahlbeteiligung mit knapp 64 Prozent leicht unter der von 2014 und auch manchen Erwartungen. Viele derer, die ihre Stimme abgaben, taten dies aber im Bewusstsein, dass nach Jahren der »Fernsteuerung« aus Delhi nun wieder zumindest die demokratische Normalität Einzug gehalten hat.
Auch dass es »die friedlichste Wahl seit Jahrzehnten« war, wie in vielen Medienberichten betont wurde, ist ein Fortschritt. Früher hatte es Anschläge und gewaltsame Zusammenstöße gegeben. Dies erklärt sich damit, dass Jammu und Kaschmir nicht nur zwischen den verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan seit deren Unabhängigkeit 1947 umstritten ist, sondern dass seit der Loslösung von der britischen Herrschaft starke Kräfte die komplette Eigenstaatlichkeit Kaschmirs und Jammus anstrebten. Der lokale Maharaja hatte sich zunächst für die Eigenständigkeit entschieden, was den Fürstentümern nach dem Abzug der Briten als dritte Option offenstand. Angriffe paramilitärischer Truppen von pakistanischem Gebiet zwangen den Fürsten aber im Austausch gegen Beistand zum Anschluss an die Indische Union – mit den im 2019 aufgehobenen Artikel 370 festgeschriebenen Sonderrechten wie dem, dass nur Einwohner Jammus und Kaschmirs in dem Teilstaat Immobilien erwerben durften.
Drei Kriege zwischen Indien und Pakistan
Indien und Pakistan haben um die Zugehörigkeit der Region drei Kriege geführt, eine Waffenstillstandslinie trennt den weit größeren indischen vom pakistanischen Teil. Seit Jahrzehnten ist keine indische Region stärker militarisiert, immer wieder kommt es auf der einen Seite zu Gewaltakten der Armee und paramilitärischer Hilfskräfte und auf der anderen Seite zu Terrorangriffen radikaler Separatisten, aber auch von Pakistan aus operierender Banden islamistisch-terroristischer Prägung.
Vor diesem Hintergrund ist die Wahl zu sehen. Keine große Überraschung ist, dass das in der Allianz I.N.D.I.A. zusammengeschlossene Oppositionslager die meisten Stimmen und Mandate holte. Unklar war nur, wie deutlich der Sieg dieses Bündnisses ausfallen würde. Dessen bedeutendste Parteien sind der Indian National Congress (INC) und die Jammu and Kashmir National Conference (JKNC) unter Führung der Familie Abdullah – mit dem 86jährigen Vater Farooq als Parteiführer und dessen Sohn Omar als designiertem Chief Minister. Die Kongresspartei, ehemals über Jahrzehnte auf nationaler Ebene dominant, holte immerhin knapp zwölf Prozent der Stimmen und sechs Mandate, die JKNC (23,5 Prozent) ging in 42 Wahlkreisen siegreich aus der Abstimmung hervor.
Zusammen mit einem Sitz, der an die ebenfalls I.N.D.I.A. angehörende Kommunistische Partei Indiens – Marxistisch (CPI-M) ging, stellt das Bündnis damit 49 der 90 gewählten Abgeordneten, während die BJP mit 25,6 Prozent der Stimmen nur auf 29 Sitze kommt. Der Rest der Mandate ging an kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten. Das Parlament umfasst insgesamt 95 Sitze, fünf Parlamentarier ernennt der Gouverneur – eine umstrittene Neuerung.
BJP-Kalkül ging nicht auf
Die Zahl der Sitze fällt geringfügig höher aus als vor einem Jahrzehnt. Bei dieser Vergrößerung des Regionalparlaments hatten Modi und seine Getreuen, wie Kritiker ihnen vorwarfen, getrickst: Die hinduistisch dominierte Teilregion Jammu, in der die BJP ihre Bastion hat, erhielt sechs Sitze mehr zugeteilt, das überwiegend muslimische Kaschmir nur einen. Kritisiert und juristisch angefochten wurde zudem, dass Gouverneur Manoj Sinha (BJP) noch fünf zusätzliche Abgeordnete ernennen konnte – und zwar alle aus den Reihen der BJP.
Das Kalkül, damit eine Mehrheit für I.N.D.I.A. zu verhindern, ging jedoch nicht auf, zumal das Bündnis noch auf die drei Stimmen der Jammu and Kashmir People’s Democratic Party (JKPDP) zählen kann, die unter den eigenen Erwartungen blieb. Die JKPDP hatte von 2014 bis 2018 zwar in einer wackligen Koalition mit der BJP regiert. Sie zählt aber mittlerweile zur vom INC angeführten nationalen Oppositionsallianz I.N.D.I.A., auch wenn sie in Jammu und Kaschmir unabhängig von dieser angetreten war. Gleiches gilt für die aus der Antikorruptionsbewegung kommende Aam Aadmi Party (AAP) von Arvind Kejriwal, die überraschend erstmals einen Sitz im Parlament von Jammu und Kaschmir gewann.
Bewährungsprobe bestanden
Dafür blieb die AAP, die in der Hauptstadt Delhi und im Punjab regiert, bei den Wahlen im nördlichen Bundesstaat Haryana ohne Mandate. Dort waren die Stimmen am 8. Oktober ausgezählt worden. Die meisten Umfragen hatten den INC vorn gesehen, doch sie behielten nicht recht: Die BJP errang 48 der 90 Sitze und kann damit eine dritte Legislaturperiode in Folge die Regionalregierung bilden. Dass die Kongresspartei mit fast genauso vielen Stimmen (39 Prozent, die BJP erhielt knapp 40 Prozent) nur 37 Mandate holte, liegt am von Großbritannien übernommenen relativen Mehrheitswahlrecht. Wer die meisten Stimmen in einem Wahlkreis erhält, dem fällt er zu, egal wie knapp der Sieg war und wie weit der Sieger die absolute Mehrheit verfehlt hat.
Dass das eigenständige Antreten der AAP in allen Wahlkreisen Haryanas in manchen Fällen den INC-Kandidaten knapp hinter die BJP-Konkurrenz zurückfallen ließ, gehört zu den Erkenntnissen bei der kritischen Analyse der Ergebnisse, die nun in beiden Lagern läuft. Während die äußerst heterogene Allianz I.N.D.I.A. nach dem Achtungserfolg bei den Parlamentswahlen vor einem halben Jahr gerade in Kaschmir eine weitere Bewährungsprobe bestanden hat, gelingt es bislang nicht immer, sich bei Wahlen abzustimmen.