Noch ist Aids nicht besiegt
Wer interessiert sich noch für das HI-Virus? In den Medien bestimmen längst andere Infektionserkrankungen die Schlagzeilen, derzeit zum Beispiel Mpox und die Vogelgrippe.
Aus medizinischer, epidemiologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht scheinen das HI-Virus (human immunodeficiency virus) und die von ihm ausgelöste Krankheit Aids (acquired immunodeficiency syndrome) zumindest hierzulande unter Kontrolle, eingedämmt durch Aufklärung, Prävention und lebenslange Behandlung mit wirksamen Medikamenten. Für diejenigen, die Zugang zu entsprechenden Therapien haben, ist HIV zu einer gut behandelbaren chronischen Erkrankung geworden. Unter diesen Voraussetzungen reduziert eine HIV-Infektion die Lebenserwartung kaum noch.
Auch international zeigt die Statistik beeindruckende Erfolge: Starben im Jahr 2010 noch weltweit 1,3 Millionen Personen, waren es im vergangenen Jahr 630.000. Risikogruppen haben seitdem deutlich besseren Zugang zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP), die eine Infektion wirkungsvoll verhindert. Circa 78 Prozent der mit HIV Infizierten haben heute Zugang zu antiviralen Medikamenten, 2015 waren es nur 43 Prozent.
Mit stehendem Applaus wurde auf der Welt-Aids-Konferenz in München das Medikament Lenacapavir gefeiert.
Die Bekämpfung des Aids auslösenden HI-Virus erscheint aus heutiger Sicht als eine Erfolgsgeschichte. Das kann darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor Millionen Infizierte keinen Zugang zu einer adäquaten Behandlung haben, beispielsweise aufgrund von Armut oder weil sie wegen ihrer sexueller Orientierung diskriminiert werden. Dies betrifft, wenn auch in relativ geringem Ausmaß, auch Personen in westlichen Staaten. In der Bundesrepublik ist 2023 die Zahl der Neuinfektionen erstmals seit Mitte der nuller Jahre nicht weiter gesunken, sondern erreichte mit schätzungsweise 2.200 wieder den Stand des Jahres 2019. Bei Risikogruppen wie homosexuellen Männern und Menschen, die intravenös Drogen konsumieren, nehmen die Infektionszahlen sogar wieder zu. Viel schlimmer aber ist die Situation in einigen Staaten Nordafrikas, Südostasiens und auch Osteuropas. Dort stieg die Sterblichkeit im vergangenen Jahr stark an.
Auf der Welt-Aids-Konferenz im Juli dieses Jahres in München waren daher auch Warnungen zu hören. So machte unter anderen Sharon Lewin, Präsidentin der Internationalen Aids-Gesellschaft, darauf aufmerksam, dass sich HIV in den genannten Regionen weiter ausbreite, was unter anderem an nachlassendem staatlichen Engagement liege.
Weit hinter den Zielen zur Bekämpfung der HIV-Pandemie zurück
Kürzungen im Gesundheitsbereich, Kriminalisierung von Risikogruppen, Kriege und Armut erschwerten die Bekämpfung von HIV und haben neben den Folgen der Covid-19-Pandemie dazu geführt, dass die Weltgesundheitsorganisation allen Fortschritten zum Trotz derzeit weit hinter ihren Zielen zur Bekämpfung der HIV-Pandemie zurückliegt und diese nach ihrer eigenen Einschätzung sowohl für 2025 als auf für 2030 verfehlen wird. So ist nach einem Bericht des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) die angestrebte Reduktion der weltweiten Neuinfektionen bis zum nächsten Jahr auf 370.000 ebenso wenig zu erreichen wie das Vorhaben, den Zugang zu PrEP auf 21 Millionen Personen mit hohem Infektionsrisiko auszuweiten. Letzteres wird auch dadurch erschwert, dass seit Monaten weltweit wichtige antivirale Medikamente nicht ausreichend lieferbar sind.
Doch jetzt weckt ein neues Medikament Hoffnung: Mit stehendem Applaus wurde auf der Welt-Aids-Konferenz in München das Medikament Lenacapavir gefeiert. Zugelassen und erstmals eingesetzt wurde Lenacapavir im vergangenen Jahr, um Infektionen mit HI-Viren zu behandeln, die gegen herkömmliche Medikamente resistent sind. Jetzt hat sich seine sehr gute Wirksamkeit auch in der Übertragungsprävention erwiesen.
Bei dem Medikament handelt es sich um einen sogenannten Kapsid-Inhibitor, der in einer großen, sehr sorgfältig gestalteten und in Uganda und Südafrika durchgeführten Studie sensationelle Erfolge gezeigt hat: Von den alle sechs Monate mit einer Injektion behandelten heterosexuellen Frauen infizierte sich keine einzige mit HIV. Diese beeindruckende Erfolgsquote von 100 Prozent wird auch deshalb als Durchbruch in der Prävention gewertet, weil alle bisher angewendeten Medikamente zur Präexpositionsprophylaxe weniger sicher wirken. So infizierten sich in der mit herkömmlichen Verhütungsmitteln und PrEP versorgten Kontrollgruppe statistisch zwei bis drei Frauen pro 100 Behandlungsjahre (also wenn man beispielsweise 100 Patienten ein Jahr lang behandelt) mit HIV.
Euphorie und Ernüchterung
Während Lenacapavir alle sechs Monate mit einer Spritze verabreicht wird, muss PrEP als Tablette unbedingt täglich eingenommen werden, weil anderenfalls die Wirksamkeit schnell nachlässt. Besonders für Frauen ist dies wichtig, da sonst aufgrund der im Vergleich zu Männern etwas anderen Verstoffwechselung der Tabletten keine ausreichende Wirkstoffkonzentration in den Schleimhäuten erreicht wird, um das Eindringen des HI-Virus nach sexuellen Kontakten zu verhindern. Der Hersteller von Lenacapavir, das in Kalifornien ansässige Unternehmen Gilead, weist darauf hin, dass heterosexuelle junge Frauen und Mädchen in den beiden afrikanischen Ländern ein hohes Risiko für eine HIV-Infektion tragen. So liege ihr Anteil an den Neuinfektionen in den Staaten südlich der Sahara bei 60 Prozent.
In die Euphorie mischte sich jedoch bald Ernüchterung. NGOs wie die Aids-Hilfe und Ärzte ohne Grenzen kritisierten, die Behandlungskosten von 40.000 US-Dollar pro Jahr, die eine Behandlung mit dem Medikament derzeit in den USA kostet, stehen einer breiten, weltweiten Anwendung in den besonders von HIV betroffenen Weltregionen entgegen. In die Kritik geriet Gilead auch deswegen, weil Andrew Hill, Forscher an der Universität Liverpool, in einer umfangreichen, ebenfalls auf der Münchner Aids-Konferenz präsentierten Untersuchung zu dem Schluss kam, dass der Hersteller Lenacapavir bereits für 40 US-Dollar jährlich profitabel produzieren und vertreiben könnte.
Solche Kalkulationen sind jedoch – ebenso wie die intransparenten Berechnungen, mit denen Pharmaunternehmen ihre Preise festsetzen – sehr komplex und deshalb stets umstritten. Während Kritiker:innen Gilead vorwerfen, Gesundheit und Leben der Betroffenen für maximale Gewinne aufs Spiel zu setzen, verteidigt sich der Konzern mit der Ankündigung, der Preis werde deutlich unter den skandalisierten 40.000 Dollar liegen und eine großzügige Vergabe von Lizenzen an Generikahersteller sei beabsichtigt.
Milliardenkosten für die Krankenkassen
Hierzulande ist Lenacapavir zur HIV-Prävention bisher nicht zugelassen. Gilead begründete dies im April damit, dass Innovation in Deutschland nicht ausreichend honoriert werde und man »intensiv« und »im engen Austausch mit der Gesundheitspolitik« an einer Änderung arbeite. Diese Formulierung kann den Verdacht wecken, das Management des Konzerns versuche, das Medikament in Deutschland möglichst teuer zu verkaufen.
Blickt man auf ähnliche Verhandlungen mit Behörden und Krankenkassen der vergangenen Jahre, besteht durchaus Grund zur Hoffnung – für die Aktionäre von Gilead. Erinnert doch einiges an den Skandal um Sofosbuvir, ein ebenfalls von Gilead vertriebenes Medikament, das in Deutschland 2014 auf den Markt kam und den Durchbruch in der Heilung von Hepatitis C brachte. In Deutschland lag der Preis einer Packung Sofosbuvir mit 28 Tabletten, deren Herstellung schätzungsweise 35 Euro kostet, im ersten Jahr nach der Einführung bei 20.000 Euro. Für die Krankenkassen entstanden Milliardenkosten. 2015 handelten sie mit Gilead einen Preis von 14.500 Euro pro Packung aus.
Heilungen von HIV-Infizierten gab es zwar, doch ist das, definiert als vollständige Entfernung des HI-Virus aus dem Körper, bisher weltweit erst bei fünf Patienten gelungen.
Auch Berichte über Heilungen von HIV-Infizierten gab es in den vergangenen Monaten. Doch ist das, definiert als vollständige Entfernung des HI-
Virus aus dem Körper, bisher weltweit erst bei fünf Patienten gelungen. Diese waren an Leukämie erkrankt und hatten eine Knochenmarktransplantation, also einen Austausch des blutbildenden Gewebes, erhalten. Das Risiko, an dieser aufwendigen und komplizierten Behandlung zu sterben, wird als sehr hoch eingeschätzt. Zwar gibt es auch hier neue Erkenntnisse, die vorsichtigen Optimismus rechtfertigen, aber die genauen Mechanismen, die diese singulären Erfolge bewirkt haben, sind bisher nicht genau verstanden.
Trotz dieser spektakulären Einzelfälle bleiben also Prävention durch Aufklärung und Medikamente sowie die langfristige Behandlung infizierter Menschen bis auf weiteres die einzigen realistischen Möglichkeiten, die Pandemie weiter einzudämmen und irgendwann vielleicht ganz zu beenden.