»Der Moment der Entscheidung ist erreicht«
Die New York Times titelte kürzlich: »Washington befürchtet, dass die Israelis die iranischen Atomanlagen bombardieren werden«. Dem Artikel zufolge versucht die Biden-Regierung, Israel davon abzuhalten. Sie haben im Juni in Haaretz geschrieben, dass Israel genau das tun sollte. Warum denken Sie, dass ein solcher Angriff unbedingt notwendig ist?
Weil das Ziel des iranischen Regimes – und alle seine Führer haben das bisher ganz offen gesagt – darin besteht, Israel zu zerstören. Sie versuchen, Atomwaffen herzustellen, und sind sehr nahe daran, dieses Ziel zu erreichen. Wenn ihnen das gelingt, wird Israel existentiell bedroht sein. Sie könnten die Atomwaffen in einem Überraschungsangriff einsetzen – oder sie könnten nur mit ihrem Einsatz drohen und dadurch Israel in gewisser Weise schrittweise zerstören. Denn das würde für Israel die ständige Gefahr bedeuten, ausgelöscht zu werden, es würde ausländische Investoren fernhalten und Israelis dazu bringen, aus dem Land zu fliehen.
Würde ein solcher israelischer Angriff nicht einen großen Krieg mit dem Iran bedeuten?
Ich glaube, wir haben jetzt den Moment der Entscheidung erreicht. Die Iraner haben einen Generalangriff auf uns begonnen und dabei ihre Stellvertreter eingesetzt. Sie haben uns sogar direkt angegriffen. Für Israel kann es keine bessere Gelegenheit geben, um das iranische Atomprojekt anzugreifen. Doch das Problem ist, dass Netanyahu immer zögerlich war. Er ist ein schrecklicher Anführer, eigentlich ist er überhaupt kein Anführer. Er hat 20 Jahre lang große Worte über iranische Atomwaffen gemacht, aber nie etwas Ernsthaftes dagegen unternommen.
»Netanyahu ist ein schrecklicher Anführer, eigentlich ist er überhaupt kein Anführer. Er hat 20 Jahre lang große Worte über iranische Atomwaffen gemacht, aber nie etwas Ernsthaftes dagegen unternommen.«
Gibt es nicht Anzeichen dafür, dass der Iran im Moment keine direkte Konfrontation sucht und dass er vielleicht bereit wäre, wieder in Verhandlungen über das Atomprogramm einzutreten, um Stabilität zu gewährleisten und einen israelischen Angriff abzuwenden?
Das iranische Regime hat im Moment Angst und befürchtet, dass Israel die Gelegenheit nutzt, um seine Atomanlagen anzugreifen. Die Iraner haben sich bisher sehr vorsichtig verhalten. Sie haben ihre Stellvertreter benutzt, um Israel zu bedrohen. Jetzt sehen sie, dass diese Stellvertreter zerbröckeln und Israel sie angreift. Deshalb bitten sie natürlich um eine Atempause und vielleicht sogar um Verhandlungen mit den USA. Das Problem ist: Selbst wenn sie Verhandlungen aufnehmen, wird ihr Endziel weiterhin darin bestehen, Atomwaffen zu erhalten. Sie werden es vielleicht noch ein oder zwei Jahre verzögern, sie werden sich eine Atempause verschaffen, aber sie werden es weiter verfolgen. Deshalb ist jetzt der Moment, in dem dieses ganze Projekt aufgehalten werden kann.
Sie sagten, Netanyahu sei in dieser Frage sehr zurückhaltend oder schwach gewesen.
Nicht nur in dieser: Er ist in jeder Frage schwach. Er ist schwach in Bezug auf das Westjordanland und die Palästinenser – einerseits will er vielleicht das Westjordanland annektieren, auf der anderen Seite will er vielleicht die Zweistaatenlösung akzeptieren, was er gelegentlich auch gesagt hat, aber er zieht nie etwas durch. Er ist in allen wichtigen Fragen unentschlossen. Sein oberstes Ziel war es immer, an der Macht zu bleiben, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Er ist wegen Korruption angeklagt, und wenn die Dinge normal verlaufen wären, säße er jetzt im Gefängnis. Er hofft, den Gerichtsprozess hinauszuzögern, indem er an der Macht bleibt.
Zeigt sich dieses Muster auch beim Krieg im Gaza-Streifen? Die israelische Regierung scheint nach über einem Jahr immer noch keinen Plan zu haben, wie der Krieg beendet werden kann und wie es dann weitergehen soll.
Es hat den Anschein, dass Netanyahu die israelische Besatzung des Gaza-Streifens und den Kampf mit der Hamas in die Länge ziehen will. Denn er weiß, dass er nicht abgesetzt werden kann und dass es keine Wahlen geben wird, solange der Krieg andauert. Das ist sein Kalkül. Die israelische Armee hat die militärische Macht der Hamas in den ersten Wochen oder Monaten im Wesentlichen gebrochen. Seitdem tritt sie dort auf der Stelle und führt eine Art Krieg auf niedrigem Niveau, um Netanyahu an der Macht zu halten.
»Die Armee hat bereits zu Beginn des Kriegs gesagt, dass die Ausschaltung des Tunnelsystems viele, viele Monate, wenn nicht Jahre dauern wird.«
Es gibt allerdings auch objektive Gründe, warum der Krieg in Gaza noch nicht beendet ist, nämlich das Tunnelsystem und die Geiseln. Die Hamas benutzt nicht nur die Zivilbevölkerung, sondern auch die Geiseln als menschliche Schutzschilde. Und das Tunnelsystem ist offenbar sehr schwer zu durchdringen und zu überwinden. Die Armee hat bereits zu Beginn des Kriegs gesagt, dass die Ausschaltung des Tunnelsystems viele, viele Monate, wenn nicht Jahre dauern wird.
Medienberichten zufolge hat die israelische Armeeführung Netanyahu dafür kritisiert, dass es keine Diskussionen über eine Nachkriegsordnung im Gaza-Streifen gibt. Lehnt er das ab, weil er dann zugeben müsste, dass es dort irgendeine Art arabischer Herrschaft geben muss?
Die Zustimmung zu einer wie auch immer gearteten arabischen Herrschaft in Gaza – durch die PLO oder die Palästinensische Autonomiebehörde oder die Golfstaaten, die Truppen dorthin schicken –, anstatt dass Israel die Besatzung dort aufrechterhält, stellt für Netanyahu in der Tat eine Bedrohung dar. Und zwar in dem Sinne, dass mindestens zwei oder gar drei seiner Koalitionspartner, die Partei von Itamar Ben-Gvir, die von Bezalel Smotrich, vielleicht auch die Ultraorthodoxen, seine Koalition verlassen würden. Dann hätte er keine Regierung mehr. Deshalb kann er dem nicht zustimmen.
Aber ich muss zugeben, an dieser Stelle hat Netanyahu vielleicht einen Punkt. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand außer der israelischen Armee die Hamas in Schach halten kann. Die israelische Armee kann im Gaza-Streifen verhindern, dass die Hamas wieder aufsteht, sich wieder aufrüstet und neue Kämpfer rekrutiert. Aber wenn eine arabische Armee oder die Polizei der palästinensischen Autonomiebehörde in den Gaza-Streifen einmarschieren würde, und die Hamas-Anhänger würden anfangen, auf sie zu schießen, würden sie nicht kämpfen. Denn in dem Fall würden sie als Kollaborateure angesehen werden. Ich wüsste niemanden, der die Hamas tatsächlich zurückdrängen und gleichzeitig die zivile Verwaltung und Sicherheit in Gaza übernehmen könnte.
Sie waren kürzlich auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Südafrika über »Narrative Conditions Towards Peace in the Middle East«, die für eine faktenorientierte Sicht auf den Israel-Palästina-Konflikt eintrat. BDS Südafrika hatte zum Boykott der Konferenz aufgerufen. Wie haben Sie das erlebt?
Erst als ich dort ankam, wurde ich auf die BDS-Kampagne aufmerksam gemacht. Es gab Proteste, und die Konferenz musste von einem Veranstaltungsort zum anderen umziehen, weil die Leute, die ursprünglich den Saal vermietet hatten, einen Rückzieher machten. Auf der Konferenz lief alles gut, bis auf die Tatsache, dass die meisten Palästinenser oder propalästinensischen Vertreter, die auf der Konferenz sprechen sollten, nicht aufgetaucht waren. Das Ergebnis war eine Konferenz, die in Hinblick auf die Redner weitgehend proisraelisch und prozionistisch war, was eigentlich nicht Sinn der Sache war. Es sollte eigentlich darum gehen, dass die verschiedenen Seiten gleichermaßen vertreten sind.
Es gibt Berichte über einen stillen Boykott israelischer Wissenschaftler, für die es immer schwieriger wird, mit westlichen Universitäten zusammenzuarbeiten. Wie sehen Ihre Erfahrungen damit aus?
Es gibt eine Menge Feindseligkeit gegenüber jedem, der sich mit Israel identifiziert, vor allem gegenüber jemandem, der sich als Zionist bezeichnet wie ich. Vielleicht auch deshalb, weil ich etwas über die Geschichte des Konflikts weiß, und manche Leute wollen nicht mit Leuten konfrontiert werden, die tatsächlich die Fakten kennen. Vor ein paar Monaten sprach ich zum Beispiel an der London School of Economics, wo ich etwa eine halbe Stunde lang von einer protestierenden Gruppe angeschrien wurde, bevor ich meinen Vortrag halten konnte.
»Im israelisch beherrschten Westjordanland gibt es etwas, das der Apartheid ähnelt.«
Ich habe den Eindruck, dass ich von verschiedenen Veranstaltern weniger eingeladen werde als früher, vielleicht weil sie befürchten, dass etwas Ähnliches passieren könnte. Jemand hat mich zum Beispiel gebeten, für ein Semester an die University of Pennsylvania zu kommen und dort zu unterrichten. Ich antwortete: Ja, das sei eine gute Idee, doch dann meldete er sich nicht mehr bei mir. Vermutlich hatte er Probleme in einem seiner Fakultätsausschüsse oder was auch immer bekommen. Und das ist mir in den letzten Monaten zweimal passiert.
Im Jahr 2022 verteidigten Sie Israel im Wall Street Journal gegen den Vorwurf der Apartheid. Es war eine Antwort auf einen Bericht von Amnesty International. Ein Jahr später unterzeichneten Sie die Erklärung »Elephant in the Room«, die der damaligen Protestbewegung in Israel gegen die von Netanyahu geplante Justizreform vorwarf, die Besatzung in der Westbank zu ignorieren. Darin hieß es: Israels »lang anhaltende Besatzung« habe zur Entstehung »eines Apartheidregimes« geführt. Haben Sie Ihre Meinung zu diesem Thema geändert?
Nein. Ich denke nicht, dass Israel ein Apartheidregime ist – hier spreche ich von Israel in seinen wirklichen Grenzen, ohne Berücksichtigung der Besatzung. In den Grenzen von 1949 hat Israel einen arabischen Bevölkerungsanteil von 21 Prozent. An verschiedenen Stellen mag es Diskriminierung geben, doch diese 21 Prozent genießen volle Bürgerrechte, Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Deshalb ist die ganze Vorstellung einer Apartheid idiotisch. Es gibt arabische Mitglieder in der israelischen Knesset, ein Richter am Obersten Gerichtshof ist Araber, die Leiter verschiedener Krankenhäuser sind Araber.
Und jenseits der Grenzen von 1949?
Im israelisch beherrschten Westjordanland gibt es etwas, das der Apartheid ähnelt. Israel kontrolliert das Westjordanland, auch wenn es eine autonome Verwaltung namens Palästinensische Autonomiebehörde gibt. Im Wesentlichen ist das Gebiet eine besetzte Zone mit einer großen palästinensischen Bevölkerung – bis zu drei Millionen Menschen, neben den etwa 500.000 israelischen Siedlern. In diesem Gebiet herrscht in verschiedener Hinsicht eine Art Apartheid. Für die Israelis im Westjordanland gilt das israelische Zivilrecht, während die Araber dort dem Militärrecht unterworfen sind. Es gibt Straßen, die nur israelische Siedler benutzen dürfen. Dies ist aber nicht mit der südafrikanischen Apartheid vergleichbar, weil es nicht rassistisch motiviert ist. Die Motive sind politisch-militärisch, im Grunde sind sie das Ergebnis von Sicherheitsproblemen, die Israel dort mit einem Teil der arabischen Bevölkerung hat.
In seinem gerade erschienenen Buch vergleicht der US-amerikanische Schriftsteller Ta-Nehisi Coates die Situation mit der Zeit der sogenannten Jim-Crow-Gesetze, also dem früheren Apartheidsystem in den US-amerikanischen Südstaaten.
Das ist absurd. Das Problem in Israel ist kein Problem von Mehrheit und Minderheit, auch nicht im Westjordanland. Es ist ein nationales Problem: Zwei nationale oder nationalistische Bewegungen kämpfen um ein Stück Land. In den USA ging es um eine Minderheit, die einst versklavt wurde und danach auf verschiedene Weise unterdrückt und diskriminiert wurde. Das hat keine Ähnlichkeit mit der Situation in Israel. Es ist ein absurder Vergleich.
Aber wenn es keine wirkliche Hoffnung oder keine Perspektive auf ein Ende der inzwischen fast 60 Jahre andauernden Besatzung mehr gibt, werden dann nicht immer mehr Menschen im Westen zu dem Schluss kommen, dass diese Besatzung, so wie sie heutzutage existiert, eben ein integraler Bestandteil des Zionismus ist?
Das ist definitiv ein Problem. Wir sollten uns jedoch daran erinnern, dass die Besatzung des Westjordanlands 1967 begann, weil die Jordanier, die damals die Kontrolle über das Westjordanland hatten, begannen, mit Maschinengewehren, Mörsern und schließlich Artillerie auf Israel, auf das jüdische Westjerusalem und auf Tel Aviv, zu schießen. Israel besiegte die Jordanier und besetzte das Westjordanland. So begann die Besatzung.
Aber es stimmt, man hat das Gefühl, dass sie permanent geworden ist. Wer hätte 1967 gedacht, dass Israel das Westjordanland 50 Jahre später immer noch besetzt halten würde? Das war einfach unvorstellbar. Und es gibt auch einen kolonialen Aspekt: Israel hat das Westjordanland in den letzten 50 Jahren besiedelt. Das sieht aus wie eine koloniale Besatzung in dem Sinne, dass Fremde kommen und sich im Land eines anderen Volkes niederlassen. Die Siedler sehen das nicht so – und die meisten Israelis wohl auch nicht. Sie denken, dass das Westjordanland das Kerngebiet der jüdischen Geschichte ist. Dort wurden die Juden zu einem Volk, und dort lebten und herrschten die Juden einen Großteil der Zeit zwischen 1000 v. Chr. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. Aber jetzt lebt eben eine andere Bevölkerung dort.
Wie wird die Frage in Israel diskutiert?
Ich denke, dass die meisten Israelis, selbst zum jetzigen Zeitpunkt, gerne aus dem Westjordanland verschwinden würden. Die meisten Israelis wollen nicht über ein anderes Volk herrschen, auch wenn sie politisch immer mehr nach rechts rücken. Doch sie wissen nicht, wie sie aus dem Westjordanland herauskommen und gleichzeitig die Sicherheit Israels gewährleisten können. Wie kann verhindert werden, dass in dem Fall eine Hamas-ähnliche Regierung oder die Hamas selbst die Macht übernimmt und anfängt, Israel mit Raketen zu beschießen – wie es die Hamas getan hat, als Israel sich im Jahr 2005 aus dem Gaza-Streifen zurückzog?
Nach dem 7. Oktober scheinen in Europa und den USA viele den Schluss gezogen zu haben, dass sich etwas grundlegend ändern muss – dass es einen neuen Verhandlungsprozess braucht, der vielleicht sogar zu einem palästinensischen Staat führt. Gibt es in Israel dafür Unterstützung?
Die Hamas hat so kalkuliert, als sie die Invasion Israels und die Massaker vom 7. Oktober plante. Die Hamas wollte, dass die palästinensische Frage wieder auf der internationalen Agenda steht. Das war seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen: Die Menschen in der arabischen Welt und im Westen interessierten sich nicht mehr dafür, was mit den Palästinensern geschah. Jetzt sprechen die Regierungen wieder über eine mögliche Zweistaatenlösung. Aber gleichzeitig machte das, was die Hamas am 7. Oktober tat, es weniger vorstellbar, dass die Israelis einen palästinensischen Staat akzeptieren würden. Viele Israelis glauben, dass ein solcher Staat ein Hamas-Staat werden würde.
Saudi-Arabien sagt immer wieder, dass es eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel nur geben werde, wenn es eine Perspektive für eine Zweistaatenlösung gibt. Die US-Regierung scheint zu glauben, dass es eine große regionale Lösung geben kann, die eine Stärkung der PA gegen die Hamas beinhaltet und eine Perspektive für einen palästinensischen Staat – mit der Unterstützung mehrerer sunnitisch-arabischer Staaten, die dann im Gegenzug ihre Beziehungen zu Israel normalisieren würden. Mal rein aus realpolitischer Sicht: Wäre das nicht der logische Weg für Israel? Schon allein um die westliche Unterstützung für Israel nicht aufs Spiel zu setzen?
Ich stimme dem grundsätzlich zu: Israel sollte sich den US-amerikanischen Bemühungen um eine Stabilisierung der Region anschließen, um die Beziehungen Israels zu einigen seiner sunnitischen Nachbarn zu normalisieren. Vielleicht würde das funktionieren, wenn Israel zumindest den Grundsatz einer Zweistaatenlösung und die Möglichkeit eines palästinensisch-arabischen Staates akzeptieren würde. Das würde ich unterstützen.
Doch bin ich mir nicht sicher, ob man sich darauf verlassen kann, dass die Palästinenser mitmachen. Die PLO hat unter Arafat und unter Abbas immer wieder behauptet, dass sie eine Zweistaatenlösung akzeptiere. Aber wenn es darauf ankam – wenn die Sache auf dem Tisch lag und unterschrieben werden sollte –, sträubten sie sich jedes Mal. Im Wesentlichen wünschen sie sich, dass Israel nicht mehr existiert. Das ist das Problem.
Das hat sich immer noch nicht geändert?
Die Palästinenser scheinen nie die Legitimität des Zionismus oder des Staates Israel akzeptiert zu haben. Sie denken, wir sind eine Räubergesellschaft, ein Räuberstaat. Wir sind gekommen und haben ihr Land gestohlen. So sehen sie das. Sie glauben nicht, dass die Juden ein Recht auf irgendeinen Teil Palästinas haben.
»Der wirkliche Bruch im israelisch-palästinensischen Friedensprozess kam, als Arafat im Jahr 2000 ganz einfach ›Nein‹ zu einem detaillierten Plan einer Zweistaatenlösung sagte.«
Gab es nicht einen ähnlichen Prozess bei den Zionisten, die zunächst glaubten, das gesamte Land vom Fluss bis zum Meer sollte Teil des jüdischen Staates werden, und erst allmählich bereit waren, Kompromisse einzugehen?
Es stimmt, die zionistische Bewegung wollte seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert das ganze Mandatsgebiet Palästina für den jüdischen Staat haben, vom Fluss bis zum Meer. Doch 1937/1938 stimmte die zionistische Bewegung einer Aufteilung des Landes zu. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen die internationale Lage: die Verfolgung der Juden durch Deutschland und der Antisemitismus in anderen europäischen Ländern. Zum anderen die arabische Revolte ab 1936 gegen die Zionisten und die britische Herrschaft in Palästina. Außerdem begannen die Briten selbst, ihre Unterstützung für den Zionismus aufzugeben.
Von diesem Zeitpunkt an war die zionistische Bewegung im Grunde mit einer Zweistaatenlösung einverstanden, auch wenn sie dies nicht in tatsächliche Politik umsetzte. Die palästinensische Nationalbewegung wollte dagegen seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren immer ganz Palästina. So sieht es die Hamas, und ich denke, so sieht es auch die Palästinensische Autonomiebehörde: Palästina gehört uns, den Arabern, der einheimischen, autochthonen Bevölkerung, und darf nicht mit den Juden geteilt werden.
Es gibt Leute – zu ihnen gehört Ta-Nehisi Coates –, die behaupten, dass Sie Ihre Ansichten im Vergleich zu Ihren früheren, kritischen historischen Arbeiten geändert hätten. Zum Beispiel hätten Sie, so schreibt Coates, früher akzeptiert, »dass der Zionismus in der Tat eine Form des Kolonialismus war«, und jetzt leugneten Sie das. Was sagen Sie dazu?
Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Nur in einem Punkt habe ich mich geändert, und zwar um das Jahr 2000 herum, als die Palästinenser die von Präsident Clinton und dem israelischen Ministerpräsidenten Barak in Camp David angebotene Zweistaatenlösung ablehnten und in den folgenden Jahren die terroristische Zweite Intifada begannen. Zu diesem Zeitpunkt kam ich zu dem Schluss, dass die Palästinenser keinen Frieden auf der Basis einer Zweistaatenlösung wollen. Was sich also änderte, war meine Einschätzung der möglichen palästinensischen Bereitschaft, einen Kompromiss mit den Juden einzugehen. Davor dachte ich, dass sich die Palästinenser in den neunziger Jahren unter Arafat allmählich auf die Akzeptanz einer Zweistaatenlösung zubewegen würden. Aber im Jahr 2000 haben sie gezeigt, dass ich mich geirrt habe. Doch meine Ansichten über den Zionismus oder über die Geschichtsschreibung der Ereignisse in diesem Land haben sich nicht geändert.
Gab es in dieser Zeit in der israelischen Gesellschaft insgesamt eine solche Veränderung?
Ja, ich denke schon. Arafat hat im Jahr 2000 den Friedensprozess zerstört. Es stimmt, dass ein israelischer Rechter 1995 ein Attentat auf Rabin verübte (der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin, der sich für Verhandlungen mit der PLO einsetzte; Anm. d. Red.). Das war auch ein Problem. Aber der wirkliche Bruch im israelisch-palästinensischen Friedensprozess kam, als Arafat im Jahr 2000 ganz einfach »Nein« zu einem detaillierten Plan sagte, den der US-amerikanische Präsident und der israelische Ministerpräsident auf den Tisch gelegt hatten. Direkt danach begann die Zweite Intifada, bei der über 1.000 Israelis durch Bombenanschläge und Selbstmordattentate auf Busse und Restaurants getötet wurden. Das führte dazu, dass sich immer mehr Israelis gegen die Palästinenser wandten und die Position der israelischen Linken unterminiert wurde. Denn deren ganze Botschaft hatte gelautet: Wir können Frieden schließen – es gibt Partner da draußen, die bereit sind, mit uns Frieden zu schließen. Dann kam das Jahr 2000 und es stellte sich heraus, es gab keinen Partner. Das hat die Linke in der israelischen Gesellschaft gebrochen.
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Benny Morris ist emeritierter Professor der Geschichte an der Ben-Gurion-Universität des Negev und ein renommierter Vertreter der »Neuen Historiker«, die Israels Geschichtsschreibung einer kritischen Revision unterzogen. Sein Buch über die Staatsgründung, »1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg«, erschien kürzlich in deutscher Übersetzung. In einem Essay kritisierte er das ebenfalls jüngst in deutscher Übersetzung erschienene Buch des palästinensisch-US-amerikanischen Historikers Rashid Khalidi, »The Hundred Years’ War on Palestine: A History of Settler Colonialism and Resistance, 1917–2017«.