Der Kohl-Wiedergänger Friedrich Merz wird Kanzlerkandidat der Union

Die schlechtesten Hits aus alten Tagen

Die Bundesrepublik scheint in einer Zeitschleife festzuhängen. Allerlei Unschönes aus der Vergangenheit erlebt ein Comeback, nun wurde auch noch Friedrich Merz offiziell als Kanzlerkandidat der Union verkündet.

Wir schreiben das Jahr 2024: Politiker und Journalisten werden von Nazis auf offener Straße zusammengeschlagen. Rassistische Stereotype dominieren die Debatten. Selbst die Gesinnungsglatze ist zurück auf ostdeutschen Schulhöfen.

Schuld daran seien die Migranten, weil sie zu viele, zu anders und vor allem hier sind. Das sagen eigentlich alle – in den Talkshows, Interviews, Kommentaren. In der Regierungskoalition. In der CDU/CSU. In AfD und BSW sowieso, manchmal auch in der Linkspartei.

Die Wucht, mit der dieser Tage wieder in die Schlagzeilen drängt, was man vom Welt- oder zumindest Zeitgeist glücklich überwunden glaubte, ist beängstigend.

Im Fernsehen lässt sich dieweil Show-Millionär Stefan Raab von der ehemaligen Profiboxerin Regina Halmich vermöbeln, um sie anschließend für ihr geschwollenes Gesicht zu verspotten. Nach 2001 und 2007 war das bereits die dritte Auflage dieses fragwürdigen Spektakels, das offenbar weiterhin viele Leute witzig finden und dafür einschalten.

Gar nicht witzig hingegen findet man die angeblich faulen Arbeitslosen vor ihren Fernsehern. Die stören das soziale Gleichgewicht, weshalb man sie un­bedingt noch mehr drangsalieren und sanktionieren muss – so jedenfalls die Kurzform einer konzertierten Kampagne, die ­jener ähnelt, die vor 20 Jahren die Hartz-Reformen begleitete.

Ein weiteres Lieblingsobjekt des Volkszorns sind die Grünen; offenbar glauben viele, diese hätten den Klimawandel erfunden, um den Deutschen das Auto und den Grill wegzunehmen.

Studenten mit Palästinenserschals

Währenddessen laufen Studenten mit Palästinenserschals herum, besetzen Hörsäle, um den »Globalen Süden« gegen jüdische Imperialisten zu verteidigen. Die ­Radiosender spielen Tag und Nacht Britpop-Schnulzen (weil sich da wohl irgend­eine Band wiedergegründet hat) oder mit HipHop- oder Indie-Rock-Elementen aufgepeppte deutsche Schlager. Und Friedrich Merz ist nun offiziell Kanzlerkandidat der Unionsparteien.

Die Wucht, mit der dieser Tage wieder in die Schlagzeilen drängt, was man vom Welt- oder zumindest Zeitgeist glücklich überwunden glaubte, ist beängstigend. Zumal dieser Retro-Trend sich nicht auf ein spezielles Jahrzehnt fokussiert, sondern auf ein auf Altherrenwitzen, tradiertem Rassismus und dumpfbäckig grinsender Realitätsverweigerung basiertes Weltbild, das hierzulande gern unter »gesunder Menschenverstand« firmiert.

Wut auf die Grünen

So gab es die tiefsitzende Wut auf die Grünen wegen der Windräder und all der anderen Maßnahmen zur »Energiewende« schon während deren erster Regierungsbeteiligung von 1998 bis 2005. Im gegenwärtigen »Das Boot ist voll«-Gerede der Politiker und der ­anschwellenden Nazi-Gewalt auf den Straßen scheinen dagegen eher die frühen neunziger Jahre zurückgekehrt zu sein.

Die deutschsprachige Weichspülermusik im Radio wiederum gemahnt an die daran anschließende ­Stabilisierungsphase, in der Deutschland seinen neuen »unverkrampften« Patriotismus feierte, während die fortlaufende rechtsextreme Landnahme insbesondere in den ostdeutschen Provinzen keine Schlagzeilen mehr wert war. Und der Antisemitismus und Antiamerikanismus vorgeblich linker Studenten verweist gar noch auf die siebziger und achtziger Jahre.

Lange florierte bei Friedrich Merz vor allem die Karriere als Lobbyist und Anwalt, die politische aber wollte nie so richtig in Gang kommen.

Die (leider allzu kurz unterbrochenen) Karrieren von Stefan Raab und Friedrich Merz erreichten kurz vor der Jahrtausendwende erste Höhepunkte. Ersterer startete im Jahr 1999 mit der Sendung »TV ­total« sein mediales Dauerfeuer aus debilen Liedchen, abgeschmackten Witzen über Frauen, Schwule, Schwächere und rustikalem Abfeiern der ­eigenen Potenz. Letzterer übernahm ein Jahr später den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Während Raabs Erfolg allerdings bis zum freiwilligen Rückzug 2015 ungebrochen anhielt, florierte bei Friedrich Merz vor allem die Karriere als Lobbyist und Anwalt samt entsprechender Nebeneinkünfte, die politische aber wollte nie so richtig in Gang kommen.

Einkommensteuer auf einem Bierdeckel

Nach nur zwei Jahren wurde er von ­seiner Parteivorsitzenden Angela Merkel als Fraktionsvorsitzender abserviert, bekam trotzdem noch seine fünf Minuten Ruhm, als er 2003 ein neues Steuerkonzept präsentierte, das es angeblich ermöglichen sollte, seine Einkommensteuer auf einem Bierdeckel zu berechnen (17 Jahre später gestand er ein, seine Rechnung damals sei »falsch« gewesen, stolz sei er trotzdem darauf), bevor er 2009 »wegen partei­interner Differenzen« (mit Angela Merkel nämlich) nicht mehr für den Bundestag kandidierte.

Seit 2021 ist Merz nun zurück im Parlament – sogar mit Direktmandat. Immerhin das ist ein kleiner Erfolg. Ansonsten gestaltete sich sein bereits drei Jahre zuvor eingeleitetes Comeback wenig überzeugend: Im Kampf um den Parteivorsitz unterlag er zunächst Annegret Kramp-Karrenbauer (2018), dann Armin Laschet (2021).

Erfolg hatte er erst im dritten Anlauf, als nach Laschets Niederlage bei der Bundestagswahl im selben Jahr außer den ewigen Hin­terbänklern Norbert Röttgen und Helge Braun niemand mehr gegen Merz antreten wollte. Sein vor fünf Jahren markig verkündetes Vorhaben, als CDU-Vorsitzender die Zustimmungswerte der AfD zu halbieren, ist hingegen krachend gescheitert, wie zuletzt die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg gezeigt haben.

Söder gleitet in einen Populismus à la Trump ab

Und seine Kanzlerkandidatur ist ein bloßer Kompromiss zwischen Anhängern der Merkel’schen, eher liberalen Linie, wie den Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und Daniel Günther (Schleswig-Holstein), auf der einen Seite, und dem zunehmend in einen Populismus à la Trump abgleitenden CSU-Vorsitzenden Markus Söder.

Belastet wird Merz’ Kandidatur zudem von voraussichtlich zwei ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten, die in Sachsen und Thüringen wohl mit dem antiwestlichen und putinistischen BSW koalieren müssen und infolge dessen außen­politische Vorstellungen an ihn herantragen könnten, die mit der bisherigen CDU-Linie in Sachen Waffenhilfe für die Ukraine, Israel-Solidarität und Westbindung schwerlich vereinbar sind.

Politik gewordener Altherrenwitz

Positiv betrachtet: Merz ist nicht der rechte Hardliner, als den ihn manche Aussagen (wie etwa zu den Asyl­bewerbern, die »uns« die Zahnarzttermine wegnehmen) erscheinen lassen. Als Kanzler würde er wohl die halbgare Cannabislegalisierung zurücknehmen, aber mit Sicherheit weder die sogenannte Homo-Ehe noch die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe – obschon er seinerzeit im Bundestag noch gegen beides votierte. Als blasser Wiedergänger eines wirtschafts­liberalen Wertkonservatismus à la Helmut Kohl wäre er wohl hauptsächlich auf Machterhalt bedacht.

Negativ betrachtet: Genau das könnte die weitere Fragmentierung des Parteiensystems befördern und den Boden für weitere Erfolge der Rechtsextremen bereiten. Ob die dann durch den im Hintergrund lauernden Markus Söder als populistisches Narrenspiel der Unionsparteien in Szene gesetzt werden oder gar in den direkten Versuch münden, ein autoritäres System zu ­etablieren, wie es der AfD vorschwebt – eine Kanzlerschaft von Friedrich Merz stünde zwischen dem unschönen Heute und diesem noch unschöneren Morgen wie ein Politik gewordener Altherrenwitz.