»Postone war ein Gegner binärer Denkweisen«
Was ist das Moishe Postone Legacy Project?
Das Projekt wurde von ehemaligen Doktorand:innen, Familienangehörigen und Freund:innen Moishe Postones ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, sein intellektuelles Erbe zu sichern, Zugangsmöglichkeiten zu schaffen und die Auseinandersetzung mit seiner Arbeit zu fördern.
Welche Bestandteile hat das Projekt?
Zuerst haben wir sein Archiv gesichert und einen Index erstellt. Vor wenigen Wochen ist dann unsere Website, moishepostone.org, online gegangen. Dort sollen digitalisierte Dokumente zugänglich gemacht werden, zum Beispiel Forschungsnotizen, Unterlagen zu seiner Lehrtätigkeit und Teile seiner Korrespondenzen. Außerdem gibt es Aufnahmen von Vorträgen und eine Publikationsliste mit Verlinkungen. All dies ist noch im Aufbau. Darüber hinaus wollen wir unterschiedliche Gruppen und Projekte, die sich mit Postones Arbeit beschäftigen, miteinander vernetzen. Dazu können wir – in begrenztem Umfang – Zuschüsse für Veranstaltungen oder Reisekosten für Archivaufenthalte vergeben.
»Postones Texte haben die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Antisemitismus und deutscher Vergangenheitspolitik in den achtziger und neunziger Jahren stark geprägt.«
Warum lohnt es sich gerade heute, Postone zu lesen?
Ich denke, dass seine Analysen eher an Relevanz gewonnen als verloren haben. Insbesondere sein 1993 erschienenes Hauptwerk »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« hilft uns, die immer bedrohlicher werdende Dynamik des globalen Kapitalismus besser zu erfassen. Er zeigt unter anderem, dass die existentiellen Krisen, denen wir uns derzeit gegenübersehen, einen gemeinsamen Ursprung haben: die Formen der gesellschaftlichen Vermittlung im Kapitalismus. Ich denke dabei etwa an die Krise der Arbeit, die auch eine Krise des gesellschaftlichen Überflüssigmachens und der Ausgrenzung einer wachsenden Zahl von Menschen auf nationaler und globaler Ebene ist, die Umweltkrise, die durch die selbstläufige Expansion der Vernutzung materieller Ressourcen angetrieben wird, und die Krise der Demokratie, die sich im raschen Anstieg von Populismus, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und so weiter manifestiert.
In einem Nachruf auf Postone in der Jungle World hieß es, dass es diese Zeitung ohne ihn »vermutlich nicht gäbe«. Wie groß war sein Einfluss auf Teile der deutschen Linken?
Seine Texte haben die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Antisemitismus und deutscher Vergangenheitspolitik in den achtziger und neunziger Jahren stark geprägt. Außerdem hat er eine Relektüre der Marx’schen Analysen vorgelegt, die stark von der orthodoxen Tradition abweicht, etwa in Hinblick auf die Kritik der Arbeit. Aber sein Denken unterschied sich auch von manchen Entwicklungen der antideutschen Linken. Postone war ein Gegner binärer Denkweisen. Er hat den Antisemitismus aller politischer Lager kritisiert – insbesondere den der Linken –, gleichzeitig hat ihm der Rechtsdrift in der israelischen Politik große Sorgen bereitet.
Gibt es Dokumente im Archiv, die Sie besonders interessant finden?
Spannend sind beispielsweise seine Lektürenotizen und Kommentare zu Texten unterschiedlicher Autor:innen, zu denen er nichts veröffentlicht hat – etwa zu Sigmund Freud, Simone de Beauvoir oder Michel Foucault. Er hat seine Auseinandersetzung detailliert protokolliert, und es ist ein bisschen so, als würde man zusammen mit ihm diese Texte lesen. Einzelne Beispiele dafür haben wir bereits auf der Homepage veröffentlicht.
Das Moishe Postone Legacy Project ist online zu finden unter: moishepostone.org