Erfolg für die extreme Rechte
Paris. Nicht für feine Ohren gedacht, aber ebenso bekannt wie populär ist der aus einem Punksong der achtziger Jahre der Band Bérurier noir stammende Slogan: »La jeunesse emmerde le Front national« – Die Jugend scheißt den Front National zu. Auch wenn die Partei 2018 in Rassemblement national umbenannt wurde, skandierten ihn, ohne Alterskontrolle, zu Anfang dieser Woche wie in den vorausgegangenen Tagen Tausende Menschen in den Straßen von Paris, Toulouse – seit Montag sind dort Spontandemonstrationen per behördliche Verfügung verboten – und Nantes. Einen Höhepunkt hatten die Proteste, die seit dem Ausgang der Europaparlamentswahlen kaum abrissen, am 15. Juni. An jenem Samstag demonstrierten frankreichweit knapp eine halbe Million Menschen.
Erleichtert zeigte sich zu Anfang der Woche hingegen zunächst die französische Börse. Während die Situation am Ende der Vorwoche angespannt war, erholten sich die wichtigsten Aktienkurse am Montag. im Tagesdurchschnitt stiegen sie um 1,1 Prozent. Am folgenden Vormittag fragte sich der ausgesprochen unternehmerfreundliche Wirtschaftsjournalist Nicolas Doze im Titel seines morgendlichen Kommentars beim Privatfernsehsender BFM TV: »Warum applaudiert die Börse zur ersten Runde?«
Was Aktienbesitzer und Investoren erleichtert, ist vor allem, dass das linke Bündnis voraussichtlich bei der Regierungsbildung nicht zum Zuge kommen wird.
Es ging um den ersten Wahlgang zur französischen Nationalversammlung, auf den am kommenden Sonntag die Stichwahlen folgen. Zu solchen wird es in 501 Wahlkreisen kommen, da 76 von insgesamt 577 zu vergebenden Sitzen bereits in der ersten Runde mit jeweils absoluten Mehrheiten gewonnen werden konnten. Die Hälfte davon ging an den rechtsextremen Rassemblement national (Nationale Sammlung, RN), den man mit 33,1 Prozent der Stimmen als klaren Wahlsieger betrachten darf.
Hinter ihm liegen das heterogene und bereits zerstrittene linke Bündnis Nouveau Front populaire (Neue Volksfront, NFP) mit 28,1 Prozent und das Lager der Präsident Emmanuel Macron unterstützenden Parteien mit 21,2 Prozent. In dessen Reihen herrscht höchster Unmut über Macron, dessen Konterfei aus dem Wahlkampf vieler seiner bisherigen Anhänger konsequent verbannt wurde. Man nimmt ihm die Parlamentsauflösung und die Ausschreibung von Neuwahlen definitiv übel.
Ebenfalls zerstritten ist die größte konservative Partei, Les Républicains (LR). Sie bekam zehn Prozent der Stimmen. 62 Kandidaten aus ihren Reihen traten gleich im Wahlbündnis mit dem rechtsextremen RN an, dem Kurs ihres Parteivorsitzenden Éric Ciotti folgend, den die Mehrheit in der Parteiführung von LR jedoch kaltstellen möchte. So kam es, dass LR-Kandidaten zum Teil mit Gegenkandidaten aus der eigenen Partei konfrontiert waren.
Was Aktienbesitzer und Investoren erleichtert, ist vor allem, dass das linke Bündnis bei der Regierungsbildung voraussichtlich nicht zum Zuge kommen wird. Vom NFP wären vor allem Steuererhöhungen zu erwarten gewesen, die die beteiligten linken Parteien angekündigt hatten, so die Wiedereinführung der 2017 unter Macron abgeschafften Vermögenssteuer (ISF) in veränderter Form, eine höhere Einkommensteuer ab einem Monatseinkommen von 4.000 Euro monatlich pro Person – nicht pro Haushalt, wie von ihrer Gegnern gestreute Falschnachrichten behaupten – mit einer stärkeren Staffelung durch 14 neue, ausdifferenzierte Steuerstufen sowie eine exit tax bei Kapitalflucht.
Regierung des RN oder »Expertenregierung«?
Den RN beargwöhnen zwar auch manche Kapitalbesitzer, vor allem wegen zu viel sozialer Versprechen in seinem Wahlprogramm, auch wenn die meisten davon nunmehr vom Spitzenkandidaten Jordan Bardella für »aufgeschoben« erklärt oder unter »Finanzierungsvorbehalt« gestellt wurden. Die Unternehmerverbände, insbesondere der Medef (Bewegung der Unternehmen Frankreichs), richteten deswegen bereits einige Forderungen an den RN. Die Generalsekretärinnen der beiden stärksten Gewerkschaftsverbände des Landes, Marylise Léon (CFDT) und Sophie Binet (CGT), monierten unterdessen, den Unternehmerverbänden gehe es in keiner Weise um den Schutz von Menschenrechten, sondern ausschließlich um den wirtschaftspolitischen Kurs.
Kapitalkreise etwa beim Medef favorisieren vor diesem Hintergrund derzeit zwei Szenarien: entweder eine Regierung des RN unter Einbindung von Konservativen, die einen wirtschaftsliberalen Kurs garantieren sollen, oder aber eine auch von Staatsrechtlern wie Benjamin Morel diskutierte »Expertenregierung«.
Von einem solchen Technokratenkabinett erhoffen sie sich eine »Entpolitisierung«, was aus unternehmerischer Sicht eine kapitalfreundliche Wirtschaftspolitik und die Rücknahme der im Wahlkampf gegebenen sozialen Versprechen bedeutet. Pläne für eine Expertenregierung werden im Élysée-Palast bereits offen mit der Presse diskutiert und dürften relevant werden, wenn keine Partei und kein Wahlbündnis eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erlangt.
Welle des Rassismus
Der Erfolg der Rechtsextremen hat bereits Auswirkungen. Auch nach Darstellung etablierter Medien schwappte in den vergangenen drei Wochen, seit dem Abend der Europaparlamentswahlen, eine in diesem Ausmaß seit längerem nicht gekannte Welle des Rassismus durch das Land. In Montargis, eine Zugstunde südöstlich von Paris, wurde ein Nachbarschaftsstreit landesweit zum Politikum. Dabei beschimpfte ein Ehepaar – der Mann ist aktiv beim RN – eine neue Nachbarin, die Krankenschwester Divine Kinkela – offenkundig, weil sie schwarz ist – in übelster Weise und riefen ihr unter anderem zu: etwa zu: »Ab ins Körbchen!« – wie man es einem Hund befiehlt. Die Ehefrau, die der ihr unbekannten Nachbarin ins Gesicht schleuderte, wegen »Leuten wie ihr« sei sie aus dem sozialen Wohnungsbau ausgezogen, ist Gerichtsbedienstete in ihrer Stadt. Sie wurde vom Dienst suspendiert.
Der früheren Partei- und Fraktionsvorsitzenden des RN, Marine Le Pen, fiel dazu in der Öffentlichkeit erst einmal nur ein, nichts beweise, dass die Sache etwas mit Rassismus zu tun haben könnte. »Ab ins Körbchen« sei ja vielleicht ein ortsüblicher Spruch, das Ganze somit eine Neckerei unter Nachbarn.
Die letzte Debatte vor dem ersten Wahlgang prägte unterdessen seit Donnerstag voriger Woche der bisherige Anwärter des RN auf das Bildungsministerium, Roger Chudeau. Er sagte in einer Talkshow bei BFM TV, Najat Vallaud-Belkacem hätte wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft nicht Ministerin werden dürfen. Vallaud-Belkacem vom Parti socialiste, der wiederum der NFP angehört, ist keine Kopftuch-, sondern eher Minirock-Trägerin, sie besitzt neben der französischen auch die marokkanische Staatsangehörigkeit – und war von 2014 bis 2017 Bildungsministerin und somit Chudeaus Vorgesetzte, denn der ist hoher Beamter im Schulministerium.
Marine Le Pen distanzierte sich eilfertig: So habe sie es nicht gemeint, als ihre Partei sich gegen Doppelstaatsangehörige in »sensiblen« öffentlichen Ämtern einsetzte. Erstmals in der Fünften Republik würde dadurch eine juristische Ungleichbehandlung unter französischen Staatsangehörigen eingeführt.