Die Luftangriffe auf Moskau bringen die russische Regierungspropaganda in Nöte

Drohnen über Moskau

Der Luftangriff auf die russische Hauptstadt hat nur geringen materiellen Schaden angerichtet, entlarvt aber die Regierungspropaganda.

Am frühen Morgen des 30. Mai wurden Bewohnerinnen und Bewohner mehrerer Wohnblocks im Moskauer Südwesten unsanft aus dem Schlaf gerissen. Sie erhielten die Aufforderung, schnellstens ihre Wohnungen zu ­verlassen. Drei Drohnen oder deren Trümmer waren in diverse Gebäude eingeschlagen und ließen beim Aufprall Fensterscheiben zerbersten und Beton von den Fassaden bröckeln. Eine der Drohnen soll einen Sprengsatz enthalten haben, der allerdings nicht explodierte. In den sozialen ­Medien wurden zudem etliche Videoaufnahmen verbreitet, die Drohnen im Vorbeifliegen oder ihren Abschuss zeigten. Nach offiziellen Angaben ­trugen zwei Personen leichte Verletzungen davon.

Nicht zum ersten Mal erreichten Drohnen die russische Hauptstadt. Vier Wochen zuvor hatten zwei über dem Kreml explodierte Flugapparate für Schlagzeilen gesorgt und demonstriert, dass der Krieg mit modernen Kampfmitteln auch das vermeintlich sichere Hinterland erreichen kann.

An diese Erkenntnis muss sich die Moskauer Bevölkerung erst noch gewöhnen, wenngleich schon im vergangenen Jahr immer wieder Diskussionen über Schutzbunker aufflammten und stellenweise sogar Verhaltensregeln für den Notfall in Umlauf kamen. Die jüngsten Vorfälle schürten zwar ­erneut das Interesse an Sicherheitskonzepten, von Panik ist in der russischen Hauptstadt hingegen nichts zu spüren. In Kiew hingegen können die Menschen schon seit Beginn des russischen Angriffskriegs nur mit kurzen Atempausen zwischen Raketenbeschuss und Drohnenangriffen rechnen, bei denen oft zivile Todesopfer zu beklagen sind. So auch in der Nacht auf den 1. Juni.

Eine von Putins Residenzen ist gerade einmal drei Kilometer entfernt von einer der Stellen, an denen Überreste abgeschossener Drohnen niedergegangen waren.

Wladimir Solowjow, dessen Metier dar­in besteht, dem russischen Fernsehpublikum die Welt aus der Sicht der ­Regierung zu erklären, behauptete vor diesem Hintergrund zum wiederholten Male, Russland beschieße prinzipiell keine zivilen Ziele; Zerstörungen ziviler Infrastruktur seien einzig und allein auf die Funktionsweise aus dem Westen gelieferter Raketenabwehrsysteme ­zurückzuführen. Die Ukraine habe aus Rache bewusst Wohnhäuser in Moskau attackiert. Als Terror bezeichneten russische Offizielle den Drohnenangriff und beschuldigten unisono die Ukraine – Mychailo Podoljak, ein Berater des ukrainischen Präsidialamtsleiters Andrij Jermak, wies derartige Anschuldigungen zurück: Man sei nicht direkt beteiligt gewesen. Präsident Wladimir Putin sprach davon, dass die ukrainische Führung offenbar abschrecken wolle und zudem die Absicht verfolge, Russland zu provozieren. Gleichzeitig erwähnte er einen wenige Tage zuvor erfolgten, offiziell unbestätigten russischen Angriff auf ein Gebäude der Aufklärungsabteilung des ukrainischen Verteidigungsministeriums.

Dass der Krieg so nahe rückt und unkalkulierbare Wirkung auf das Leben in Moskau entfalten könnte, was beides der Propaganda widerspricht, bringt den russischen Propagandaapparat in Erklärungsnot. Zu bieten hat er allerdings nur das Übliche: Herunterspielen eventueller Gefahren und Androhung von Repressalien gegen Warner. Nachdem mehrere Medien an jenem Tag vor und über Moskau insgesamt zwischen 25 und 32 Drohnen gezählt hatten, vermeldete das russische Verteidigungsministerium lediglich acht Drohnen, die allesamt abgefangen und damit unschädlich gemacht worden seien. Wer davon abweichende Angaben ­verbreite, mache sich strafbar, so die Staatsanwaltschaft, während der erste Kanal des staatlichen Fernsehens in den Nachrichten behauptete, auf den zahlreich ver­öffentlichten Videos seien stets ein und dieselben Drohnen abgebildet.

Beim Betrachten einer Landkarte mit eingetragenen Abschusskoordinaten der acht ­offiziell gemeldeten Drohnen fällt auf, dass sich eine Linie über bekannte Ortschaften vor den Toren der Hauptstadt hinweg erstreckt, in denen Russlands Superreiche ihr Domizil haben. Eine von Putins Residenzen ist gerade einmal in drei Kilometer entfernt von einer der Stellen, an denen Überreste abgeschossener Drohnen niedergegangen waren. In unmittelbarer Nähe residieren auch die Brüder Arkadij und Boris Rotenberg, eng mit Putin verbündete Oligarchen.

Sollte die Absicht hinter den Drohnenangriffen darin bestanden haben, Widersprüche in der russischen Gesellschaft hervortreten zu lassen, so ist die Rechnung aufgegangen. Mitgefühl oder Solidarität mit Oligarchen, die sich auf Kosten der riesigen Bevölkerungsmehrheit ein Leben im Überfluss leisten, bringen selbst im Lager der Kriegsbefürworter längst nicht alle auf. Noch kann Putins Regime auf dessen Loyalität bauen, doch ganz so ­unerschütterlich dürfte sie auf Dauer kaum bleiben. So manchen Äußerungen hängt gar ein Hauch von Defätismus an, so wird beispielsweise in von systemnahen Kräften betriebenen Telegram-Kanälen den Reichen in ihren ­Luxusvierteln Realitätsverlust vorgeworfen; diese würden partout nicht wahrhaben wollen, dass sich das Kriegsgebiet längst vom Donbass über Belgorod bis vor ihre Haustür erstrecke.

Einen Unterschied gibt es dennoch: In grenznahen Gebieten kommen bereits russische Zivilisten ums Leben und in der Region um Belgorod wurde wegen andauernder Angriffe kürzlich die Evakuierung von Kindern eingeleitet.