25.05.2023
Das Kernkraftwerk Saporischschja ist permanent im Krisenmodus

Die atomare Komplikation

Die Lage am von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerk Sapori­schschja spitzt sich vor der angekündigten Gegenoffensive der Ukraine zu. Russland hat Tausende Anwohner evakuiert und stationiert der IAEA zufolge Waffen auf dem Gelände.

»Wir holen alles zurück«, sagte Wolodymyr Selenskyj in Rom, Berlin, Paris und London. Damit definierte der Präsident der Ukraine das Kriegsziel seines Landes, das für die nahe Zukunft eine militärische Gegenoffensive gegen die russischen Invasoren angekündigt hat. Er hatte sich Anfang des Monats auf eine Europa-Reise begeben, um zusätzliche Gelder, Waffen und politische Unterstützung zu bekommen. Die Reise verlief erfolgreich, aber bei der Gegenoffensive könnte es ein Problem geben, eine »nukleare Komplikation«, an die das Magazin Foreign Policy Anfang Mai erinnerte.

Dort, wo im Süden der Ukraine der Strom Dnipro die Front bildet, liegt auch das Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja mit sechs Druckwasserreaktoren, Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente und einem Trockenlager für Atommüll. Die Anlage befindet sich nicht auf dem Gebiet der ukrainisch kontrollierten Stadt Saporischschja, sondern auf dem der südwestlich davon gelegenen Gemeinde Enerhodar, die die russische Armee bereits in den ersten Kriegstagen eingenommen hat. Sollte die ukrainische Offensive erfolgreich verlaufen, könnte Russland »die Anlage in die Luft jagen«, befürchtet Foreign Policy. Zwischen den Zeilen kann man lesen: Auch die Ukraine könnte Interesse haben, das AKW zu zerstören.

Als großes Risiko gilt eine vollständige Trennung vom Elektrizitätsnetz. Im Notfall braucht ein Atomkraftwerk externen Strom, um die Kühlung aufrechtzuerhalten und eine Kernschmelze zu vermeiden.

Das ZNPP, wie die international übliche Abkürzung für Zaporizhzhia Nuclear Power Plant lautet, wurde im März vergangenen Jahres von einem russischen Kommando erobert, aber weiter durch die Belegschaft des staatlichen ukrainischen Unternehmens Energoatom betrieben. Seit Juli bildet es den Schauplatz militärischer Scharmützel, un­geachtet des Risikos eines Super-Gaus, das damit verbunden ist. Artilleriebeschuss, Drohnenangriffe, Brände in den angrenzenden Waldstücken, wiederholte Unterbrechungen der Hochspannungsleitungen – wie jüngst in der Sonntagnacht – das Kraftwerk befindet sich in einem permanenten Krisenmodus, auch wenn es bisher noch nicht zum Austritt von Radioaktivität gekommen ist.

Als großes Risiko gilt eine vollständige Trennung vom Elektrizitätsnetz. Im Notfall braucht ein Atomkraftwerk externen Strom, um die Kühlung aufrechtzuerhalten und eine Kernschmelze zu vermeiden. Von den vier 750-Kilo­volt-Leitungen, die das ZNPP mit dem Stromnetz verbinden, sind jedoch drei zerstört. Die vierte Leitung wurde mehrfach beschädigt, konnte aber repariert werden. Gleiches gilt für eine Ersatzleitung mit 330 Kilovolt, die zu einem nahegelegenen Wärmekraftwerk führt. Sie sollte zum Einsatz kommen, wenn die vierte Überlandleitung ausfällt, wird aber ebenfalls des Öfteren sabotiert und ist derzeit defekt.

Mehrfach konnte die Stromversorgung des Kraftwerks nur durch den Einsatz von Dieselgeneratoren gewährleistet werden. Vor allem diese Situation führte dazu, dass Reaktoren herunter- und wieder hochgefahren werden mussten, bis im Spätsommer das Kraftwerk weitgehend seine Produktion einstellte. Fünf Reaktoren befinden sich seitdem im Nachbetrieb, der mehrere Jahre währenden Phase nach der Abschaltung, in der weiterhin Kühlung nötig ist, während der sechste Block nur noch mit stark reduzierter Leistung betrieben wird.

Der Entscheidung, die Blöcke herunterzufahren, hatte sich der Direktor von Energoatom, Petro Kotin, lange Zeit ­widersetzt; sie kam zustande, nachdem eine Delegation der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) das ZNPP besucht hatte. Seitdem ist ein Beobachtungsteam der IAEA vor Ort, um nötigenfalls Hilfsmaßnahmen zu koor­dinieren. Ohne es zu belegen, schreibt Foreign Policy, beide Kriegsparteien hätten die Versorgungsleitungen beschossen, eine zumindest naheliegende Behauptung. Die russische Seite versucht, das Kraftwerk vom ukrainischen Netz zu trennen, die ukrainische Seite will verhindern, dass das ZNPP Strom für die besetzten Gebiete liefert.

Ukrainer und Russen beschuldigen sich regelmäßig gegenseitig, für die beim Beschuss des Kraftwerks angerichteten Schäden verantwortlich zu sein. Bisher wurden dabei lediglich periphere Einrichtungen getroffen, doch nach Einschätzung der IAEA sind größere Zerstörungen jederzeit möglich. Die Situation werde »immer unvorhersehbarer und potentiell gefährlich«, sagte der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, kürzlich.

Offensichtlich bereitet man sich auf die Verteidigung des Kraftwerks vor, ein Unterfangen, das ebenso sinnlos ist wie ein Angriff auf ein Atomkraftwerk.

Schon im März warnte er, es sei »offensichtlich, dass die militärischen Aktivitäten in dieser Region zunehmen«. Er wies darauf hin, dass es bereits einen ukrainischen Versuch gegeben habe, die Anlage zurückzuerobern. Zuvor hatte die Londoner Times über ­einen gescheiterten ukrainischen Angriff berichtet. Die Ukraine behauptete wiederholt, bei den Attacken handele es sich um false flag-Aktionen, also Angriffe, die Russland fingiert, um sie den Ukrainern unterzuschieben.

In Erwartung der ukrainischen Gegenoffensive wird der Ernst der Lage ­erneut in aller Schärfe deutlich. Die russische Regionalverwaltung hat Anfang des Monats eine Evakuierung Tausender Einwohner Enerhodars veranlasst.

Auch der letzte Reaktor wurde vollständig heruntergefahren. Offensichtlich bereitet man sich auf die Verteidigung des Kraftwerks vor, ein Unterfangen, das ebenso sinnlos ist wie ein Angriff auf ein Atomkraftwerk. Dies versucht die IAEA allen Beteiligten klarzumachen: Keiner könne bei einem Kampf um das ZNPP gewinnen, beide könnten nur verlieren. Mitte Mai hieß es aber optimistisch, die diplomatischen Bemühungen um ein Abkommen zum Schutz des Kraftwerks stünden kurz vor einem Erfolg.

Dabei sollte die Einsicht in die Notwendigkeit eines beiderseitigen Verzichts auf die Atomanlage nicht schwerfallen. Das ZNPP wird wahrscheinlich keinen Beitrag zur Elektrizitätsversorgung mehr leisten. Bleibt das Kraftwerk in russischer Gewalt, dürfte die Ukraine mit Sabotageaktionen verhindern, dass es wieder in Betrieb geht. Wird es hingegen zurückerobert, dann werden es die Russen bei ihrem Abzug wohl so beschädigen, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnen würde. Dazu bräuchten sie nur die Turbinen zu demolieren, die im Shutdown-Modus, wenn die Kontrollstäbe komplett eingefahren sind und die atomare Kettenreaktion im Reaktorinnern unterbrochen ist, für den Betrieb ohnehin irrelevant sind.