Über die Demokratie in ihrer liberalen und in ihrer sozialen Form

Staatstragender Volkssport

Über die »Demokratie« in den höchsten Tönen zu sprechen, ist angesagt – bei Linken wie bei Rechten. Bei dieser meist berechnenden Lobhudelei geht aber die Geschichte des Begriffs unter und damit das, für was er auch einmal stand – oder stehen könnte.

Wolf Biermann war mal Kommunist. Trotzdem ist er unter Linken unbeliebt. Das liegt sicherlich auch daran, dass sich die meisten noch an seinen peinlichen Auftritt im Deutschen Bundestag vor knapp zehn Jahren erinnern. Zwar warf er da nur der Nachfolgepartei der SED vor, die Nachfolgepartei der SED zu sein – trumpfte dabei aber unangenehm als Sieger der Geschichte auf und nannte sich selbst einen »Drachentöter«. Sein Selbstdarstellertum kann man Biermann übel nehmen, es gehört aber schlicht zum Beruf des ehemaligen Dissidenten. Es dürfte wohl noch etwas anderes ausschlaggebend sein für die Abneigung gegen Biermann: Er ist Renegat.

Biermanns Lebensgeschichte steht symbolisch für das Verblassen der kommunistischen Hoffnung und dafür, dass es nicht nur schlechte Gründe gibt, sich von ihr zu verabschieden. Schon seine Großmutter war überzeugte Kommunistin. Kindlich »Oma Meume« genannt, tritt sie in einigen seiner Lieder als Gewissen des Kommunismus auf. Vater Dagobert – Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus – wurde in Auschwitz ermordet. Der 1936 in Hamburg geborene Wolf siedelte als 16jähriger allein in die DDR über. Schon in den sechziger Jahren geriet er in Konflikt mit der SED-Führung, der in seiner Ausweisung 1976 gipfelte. Erst viel später wandte er sich vom Kommunismus ab.

2006 begründete Biermann dies rückblickend in einem Interview mit dem Spiegel: Er legte dar, »dass die Begriffe im politischen Getümmel ihre konkrete Bedeutung daher kriegen, was für eine Praxis sich mit ­ihnen verbindet«. Biermann habe daher für sich erkannt: »Auch den Kommunismus muss man über seine Praxis, seine Geschichte, seine Wirklichkeit definieren. Das ist nicht mehr das heilige Wort, für das dein Vater gegen die Nazis gekämpft hat, statt seinen Judenhintern zu retten (…). Sondern das bedeutet, Gulag, totalitäre Herrschaft«, so der damals fast 70jährige. Hinter diese Einsicht darf nicht zurückfallen, wer sich heute »Kommunist« nennt: Man kann nicht so tun, als hätte es das vergangene Jahrhundert nicht gegeben.

Das Maß, an dem Biermann hier den »Kommunismus« misst, sollte man an alle politischen Begriffe anlegen, auch an den heiligsten von ihnen: »Demokratie«. Fast jeder ist heute Demokrat. Im Lexikon »Begriffe der Gegenwart«, unter dem Stichwort »Demokratie«, schreiben die Politikwissenschaftler Philip Dingeldey und Dirk Jörke verschmitzt: »Demokratisch« und »nichtdemokratisch« seien einfach Synonyme für »gut« und »schlecht«.

Auch Linke singen meist das Loblied auf die Demokratie – oder, wenn es etwas kritischer klingen soll, die Demokratisierung. Durch zahllose Pamphlete der Linkspartei geistert die Forderung nach der »Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche«. Und die »Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen« kämpft nicht einfach für die Vergesellschaftung des Wohnraums, nein, sie will »das Wohnen demokratisieren«. Selbst umstürzlerisch auftretende Linksradikale klagen immerzu über undemokratische Zustände und fordern mehr Demokratie.

Im Lexikon »Begriffe der Gegenwart«, unter dem Stichwort »Demokratie«, schreiben die Politikwissenschaftler Philip Dingeldey und Dirk Jörke verschmitzt: »Demokratisch« und »nichtdemokratisch« seien einfach Synonyme für »gut« und »schlecht«.

Keiner scheint sich daran zu stören, dass das hierzulande sowieso alle tun. Sogar in der politischen Rechten finden sich ausschließlich selbsternannte Kämpfer für die Demokratie. Auf Demonstrationen gegen die ­Coronamaßnahmen waren haufenweise Schilder bemalt mit den Schlagworten »Demokratie« und »Keine Diktatur«. Die Zeitung Junge Freiheit initiiert regelmäßig »Petitionen für Demokratie« – in denen sie zum Beispiel verlangt, die Rundfunkgebühr abzuschaffen.

Und die Forderung nach wahlweise »echter« oder »wahrer Demokratie« gehört zum Markenkern der AfD. Deren Fraktion im Europaparlament heißt, na klar, »Identität und Demokratie«. Schon komisch: Egal worum es geht, die deutsche Linke folgt der Doktrin, immer das Gegenteil von dem zu vertreten, was die Rechten sagen. Nur ihre Liebe zur Demokratie lässt sie sich auch von Rechtsextremen nicht madig machen.

Das Gezänk um die Demokratie scheint Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, den Theoretikern des Populismus, recht zu geben: Sie meinten, wirklich politisch sei nur der stän­dige Kampf um die Auslegung gesellschaftlicher Werte. Weder Kritik mit den Mitteln der Vernunft noch historische Erfahrung ließen sie gelten – nur schwankende Mehrheiten. Man könnte dennoch stutzig werden: Wenn die Freunde der populistischen Weltauffassung nämlich recht hätten, dann läge die Schwäche der Linken an ihrer schlechten Öffentlichkeitsarbeit. Dass die meisten unter Demokratie eben Parlament und nicht Rätekommunismus verstehen, käme dann daher, dass nicht gut ­genug »um die Köpfe gekämpft« wurde. Wer so argumentiert, lässt die historische Wirklichkeit der Demokratie außen vor.

Das moderne Verständnis von ­Demokratie prägte nicht zuletzt die Französische Revolution. Unter an­derem die Jakobiner um Maximilien Robespierre bekannten, das Wesen der Demokratie seien die Selbstbestimmung des Volkes und die Gleichheit der Staatsbürger. Allmählich entwickelten sich zwei Typen der Demokratie, die die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmen sollten – liberale und soziale Demokratie. Diese Trennung fand sich im deutschen Vormärz idealtypisch ausgebildet: Die Liberalen warben für ein Parlament, Wahlen, kurz: für po­litische Veränderungen – und natürlich für Ehre, Vaterland und Judenhass.

Wilhelm Weitling dagegen, der radikale Demokrat und frühe Theoretiker des Kommunismus, forderte zusätzlich zur politischen die »soziale Revolution«, die völlige Neuordnung des gemeinsamen Lebens und Arbeitens. Binnen weniger Jahrzehnte wurde die soziale Demokratie zu einem der wichtigsten Begriffe der Arbeiterbewegung: Ab 1864 erschien die Zeitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter dem Titel Der Social-Demokrat; 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Vielleicht war ihnen noch Friedrich Engels’ Feststellung von 1845/1846 präsent: »Die Demokratie, das ist heutzutage der Kommunismus.« Er hatte daraus gefolgert: »Und wenn sich die proletarischen Parteien verschiedener Nationen vereinigen, so haben sie ganz recht, das Wort ›Demokratie‹ auf ihre Fahnen zu schreiben.« Diese Feststellung besaß bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit. Die Demokratie war also in zwei klassenspezifischen Formen zu haben – liberal oder sozial.

Das änderte sich im Zuge des Kalten Kriegs. Wenn man sich erinnert, dass die Staaten des Ostblocks »Volks­demokratien« hießen und einer der beiden deutschen Staaten »Demokratische Republik«, wird daran zweierlei deutlich: Erstens glaubte keine Seite des Weltkonflikts, auf die Demokratie als Legitimationsbegriff verzichten zu können. Und zweitens spürt man, dass etwas faul ist, dass die Bezeichnungen nicht passen. Die freiheitliche Demokratie des Westens hat sich im Weltgedächtnis durchgesetzt; die Demokratie vereindeutigte sich in Richtung Libe­ralismus.

Heutzutage hat sie eine ganz bestimmte, durch den Gang der Geschichte festgelegte Bedeutung: Bürger haben gewisse Rechte gegenüber dem Staat. Sie sind formal gleich und sozial ungleich. Die einen kaufen Superjachten, die anderen Supersonderangebote. Alle dürfen wählen – nämlich eine Funktionärsschicht, die dann in Parlamenten und Ministerien sitzt. Dort entscheidet diese alles Mögliche. Ihre Hauptverantwortlichkeit besteht indes darin, dass die Wirtschaft floriert.

Die Demokratie gehört denjenigen, die nichts oder nur wenig ändern wollen.

In der Bundesrepublik gibt es noch eine Besonderheit – hier meint Demokratisierung seit dem 2000 von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ausgerufenen »Aufstand der Anständigen« den Ausbau der Zivilgesellschaft, also halbstaatlicher Vereine, die das derzeit gültige Selbstverständnis der Nation unter die Leute bringen und zugleich eigentlich staatliche Aufgaben kostengünstig übernehmen sollen. Manche (Ex-)Linksradikale vermuten dort Karriereoptionen, bei denen sich das gute Gewissen mit dem Geldverdienen vereinen lässt. Wer aber beruflich die »freiheitliche demokratische Grundordnung« lobpreist und sie Jugendlichen schmackhaft macht, verwandelt sich oft genug tatsächlich in einen ihrer Anhänger.

Die Demokratie gehört denjenigen, die nichts oder nur wenig ändern wollen. Zum Beispiel Frank-Walter Steinmeier. Nach seiner Wiederwahl als Bundespräsident vor gut einem Jahr erklärte er kämpferisch: »Wer für die Demokratie streitet, hat mich an seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!« Groß schien die Gefahr für »unsere Demokratie« zu sein, denn er warnte eindringlich vor den »Gegnern der Demokratie«, die man daran erkenne, dass sie Ängste schürten. Ihnen rief Steinmeier entgegen: »Nichts leuchtet heller als die Idee der Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen!« Wenn das Staatsoberhaupt der Bundes­republik angestaubte Revoluzzerparolen hervorkramt, muss es schlecht um die Demokratie stehen – oder Steinmeier wollte selbst Ängste schüren, um die Unzufriedenen auf Linie zu bringen. Er demonstrierte die Kehrseite der allgemeinen Demokratiebegeisterung: Sie wird ständig aus taktischen Gründen beschworen. Es ist zum Volkssport geworden, politischen Gegnern vorzuwerfen, sie seien Feinde der Demokratie.

Wer mit den Zähnen knirscht, weil die Demokratie heutzutage auf ihre liberale Form festgelegt ist, sollte nicht vergessen: Denjenigen, die sie nicht haben, erscheint sie als Verheißung. Der globale Demokra­tieindex zeigt recht verlässlich, wie gut es sich irgendwo leben lässt. Und täglich riskieren Leute ihr Leben für die Demokratie – indem sie für politische Veränderungen kämpfen oder in demokratische Staaten fliehen. Zur Wahrheit gehört zwar auch, dass die Industriestaaten der ver­gangenen Jahrhunderte im Durchschnitt demokratischer sind als ihre Rohstoff- und Menschenlieferanten – und dennoch: In großen Teilen der Welt heißt Demokratie schlicht ein besseres Leben.