Helin Evrim Sommer, ehemalige Bundestags­abgeordnete der Linkspartei, über die Probleme der »Linken«

»Die Russland-Politik ist von Sowjetnostalgie bestimmt«

Die Jungle World sprach mit der Politikerin über einen möglichen Austritt Sahra Wagenknechts, den Ukraine-Krieg und die Außenpolitik der Ampelkoalition
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Ungefähr zwei Monate nach Russlands Angriff auf die Ukraine sind Sie im Mai 2022 aus der Linkspartei ausgetreten. Wie kam es dazu?
Meine kritische Haltung gegenüber Russland war einer meiner primären Gründe für den Austritt aus der Partei. Denn die Russland-Politik der Partei »Die Linke« ist von einer Sowjetnostalgie bestimmt. Trotz der repressiven Innenpolitik und der imperialen Expansionspolitik des Putin-Regimes wird stets dem Westen die Schuld gegeben, was zu einer blinden Russland-Verklärung geführt hat. Maßgebliche Teile der Partei reproduzieren öffentlich die Propaganda des Putin-Regimes und haben oft genug einseitig die Interessen des Kreml unterstützt. Und selbst heute noch geben Teile der Partei der Nato entweder eine Haupt- oder eine Mitschuld an Putins brutalem Angriffskrieg gegen die Ukraine, was jenseits der ­Realität liegt.

Einige Linke meinen, sie würden sich nicht mit Russland solidarisieren, sondern lediglich Neutralität in einem Konflikt wahren, der nicht ihrer ist. Denken Sie, das ist möglich?
Solange Putin der Ukraine das Existenzrecht abspricht und willkürlich Grenzen verschieben will, kann es keine neutrale Positionierung zum Krieg gegen die Ukraine geben. Denn eine Neutralitätspolitik würde dazu führen, dass die Ukraine Putin auf dem Silbertablett serviert wird. Außerdem muss man das doch zu Ende denken. Das würde bedeuten, dass die Ukrainer:innen unter einer autoritären Besatzungsmacht leben müssten. Wir haben gesehen, dass das Terror bedeutet. In diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sollte die Maxime der deutschen Außenpolitik die Solidarität mit der Ukraine sein.

Kann man nicht zu Recht entgegnen, dass man derzeit einen Atomkrieg riskiert?
Eine atomare Eskalation, welche die Nato in den Konflikt hineinzieht, darf selbstverständlich nicht ausgeblendet werden. Das ist zu vermeiden. Gleichwohl darf Putin, der gegebenenfalls auch zum Einsatz von Atomwaffen bereit ist, nicht die deutsche Außenpolitik bestimmen. Die Unterstützung der Ukraine zielt außerdem nicht darauf ab, sie zu befähigen, jenseits ihrer Grenzen Russland anzugreifen. Die Ukraine soll in die Lage gebracht werden, sich selbst gegen den Aggressor Russland zu verteidigen. Laut der UN-Charta hat die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung. Wenn sich die Ukraine gegen den russischen Angriff verteidigt, ist das vom Völkerrecht gedeckt. Und andere Länder dürfen die Ukraine dabei unterstützen, auch militärisch.

Weshalb lehnt die Linkspartei Waffenlieferungen schlankweg ab?
Bei allem, was sie für sozialistisch hielte, würde »Die Linke« eine bewaffnete Selbstverteidigung gutheißen. Aber bei der Ukraine ist sie dagegen, weil das Land ihr zu westlich ist und angeblich eine Marionette der USA. Das Gleiche gilt für Belarus. Als Frauen dort auf die Straße gingen, war ich der Meinung, dass wir das unterstützen sollten. Lukaschenko hat Wahlbetrug begangen, dagegen wurde demonstriert. So eine Demokratiebewegung muss man doch unterstützen. Aber nein, in der Linkspartei geht das nicht, weil die USA dort angeblich einen regime change betrieben. Man misst hier mit zweierlei Maß. Alles, was sich gegen die USA richtet, ist gut. Alles andere ist schlecht. So platt ist leider diese linke Weltsicht. Dass die Partei etwa damals im Syrien-Krieg das terroristische Assad-Regime unterstützte und dies mit der Notwendigkeit begründete, die territoriale Integrität Syriens zu wahren, hat mich überrascht. Ich habe mich mein Leben lang gegen autoritäre Regime und Diktaturen eingesetzt. Zu sehen, dass meine Partei diese Regime unterstützt, hat mich politisch von ihr entfremdet. Man sieht es derzeit beim Aufstand der Frauen im Iran: Auch in Richtung der Mullahs ist die Linkspartei relativ still.

Muss man sich von der Idee linker Friedenspolitik verabschieden?
Man kann doch eine glaubwürdige Friedenspolitik vertreten, ohne zweierlei Maß anzulegen. Dass die deutsche Politik auf einmal davon redet, eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik anzustreben, während davon vor dem Krieg nicht die Rede war und Wirtschaftsinteressen immer vor den Menschenrechten kamen, muss man natürlich kritisieren. So wie auch die Außenpolitik gegenüber Erdoğan oder Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Aber man kann in der Außenpolitik nicht in ein Schwarzweißdenken verfallen. Kritik an der Nato und den USA immer dann heranzuziehen, wenn es um die Kritik an menschenverachtenden Regimen geht, das ist doch what­aboutism.

Scheitert die Linkspartei an einem dogmatischen Pazifismus?
Es gilt, als Linke einen pragmatischen Pazifismus zu vertreten. Das Recht auf Selbstverteidigung muss möglich sein. Die Linkspartei lag da eben schon oft falsch. Sahra Wagenknecht sprach noch einen Tag vor dem Angriffskrieg davon, dass Putin niemals die Ukraine überfallen würde. Sie versteht die Zusammenhänge der multilateralen Weltordnung überhaupt nicht. Sie sollte dringend die Finger von der Außenpolitik lassen.

Sahra Wagenknecht hat angekündigt, zukünftig nicht mehr für die Linkspartei zu kandidieren und sich neu zu orientieren. Sind Sie der Meinung, ein Austritt oder ein Ausschluss Sahra Wagenknechts würde die Probleme der Linkspartei lösen?
Die Positionen von Wagenknecht vertreten nicht wenige Bundestagsabgeordnete. Die sogenannte Friedensdemo (der »Aufstand für Frieden« in Berlin; Anm. d. Red.) hat es ja gezeigt. Das Problem der Partei ist aber nicht einzig der Wagenknecht-Flügel. »Die Linke« fordert zwar direkte Demokratie, aber hält selbst keine Mitgliederentscheide ab. Das ist keine moderne linke Partei, sondern eine leninistische Parteistruktur. Und die Bundestagsfraktion hat sich gewissermaßen von der Partei und dem Vorstand losgelöst. Innerhalb des Bündnisses der sogenannten Reformer mit dem Wagenknecht-Lager in der Bundestagsfraktion schiebt man sich gegenseitig die begehrten Posten zu. Dennoch, die Parteistruktur ist das Problem, nicht nur die Fraktion.

Was ist denn mit dem Netzwerk »Progressive Linke«, das von sich sagt, die Linkspartei retten zu wollen? Sehen Sie darin eine Perspektive?
Man kann zwar behaupten, eine andere Strömung innerhalb der Partei zu vertreten, und sich progressiv nennen, das bringt aber im Endeffekt auch nichts. Eine Sahra Wagenknecht oder eine Sevim Dağdelen bekommen Mandate. Sie sind diejenigen, die im Bundestag in den Entscheidungsgremien sitzen. Ich weiß, wovon ich rede. Als eine der parlamentarischen Geschäftsführerinnen der Bundestagsfraktion hatte ich Mühe, überhaupt meine Presseerklärungen herauszuschicken, weil diese Gruppe sie immer blockiert hat. Es war ein ständiger Kampf gegen die eigenen Leute.

Also gibt es keine Hoffnung auf grundlegende Veränderung in der Partei?
Ich glaube, dass »Die Linke« nicht auf der Höhe der Zeit ist, wenn es darum geht, für eine offene und diverse Gesellschaft einzutreten. Teile der Partei spielen klassische Sozialpolitik und den Antidiskriminierungskampf gegeneinander aus und buhlen auch noch um die Wählerstimmen rechtslastiger Protestgruppen. Die Querfront-Allianz von vielen Bundestagsabgeordneten der Linkspartei hat die Brandmauer gegen rechts eingerissen. Für mich hat die Linkspartei ihren Identitätskern als antifaschistische Partei längst verloren.

Was halten Sie von Annalena Baerbock und der feministischen Außenpolitik?
Schweden hat bereits 2014 das Konzept einer feministischen Außenpolitik implementiert. Margot Wallström, eine überzeugte Sozialdemokratin, ist die Erfinderin dieser Strategie. Die Idee der feministischen Außenpolitik beinhaltet drei Ziele: gleiche Rechte für Frauen, gleiche Repräsentation und gleicher Anspruch auf Ressourcen. Es ist ein Armutszeugnis für Deutschland, dass erst die Ampelregierung damit um die Ecke kommt. Diese Idee aus dem Jahre 2014 aufzugreifen, ist richtig und wichtig. Doch sie muss weiterentwickelt werden. Außer Lippenbekenntnissen ist da nicht viel passiert. Das sehen wir aktuell im Iran. Eine feministische Außenpolitik muss schon mehr als ein Label sein. Als Regierung sollte man die Frauen im Iran und in Belarus unterstützen – finanziell und logistisch. Es wäre wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, um die Regierungen unter Druck zu setzen, und im Zweifelsfall die Verfolgten zu schützen und ihnen politisches Asyl zu gewähren. Deutschland sollte wesentlich härter gegen das Mullah-Regime vorgehen. In Afghanistan war auch keine feministische Außenpolitik zu erkennen. Da hat die Bundesregierung die Frauen den Taliban ausgeliefert.

Wie ist Ihr Verhältnis zu linker Außenpolitik?
Außenpolitik hat für mich immer eine besondere Rolle gespielt. Ich bin mit meiner Familie aus der Türkei geflüchtet, weil mein Vater auf einer Todesliste der türkischen Militärjunta stand. Wir konnten knapp unser Leben retten – ich war damals neun Jahre alt. Daher würde ich auch nie eine antiwestliche Haltung einnehmen. Denn wir sind ja nur in diesem Land, weil wir Kur­den sind, deswegen wurden meine Eltern verfolgt. Der Westen hat uns das Leben gerettet.

Sie haben trotz Ihrer Haltung in der Außenpolitik in der Linkspartei Karriere machen können, sind in den Bundestag gewählt worden. Ist das nicht verwunderlich?
Überrascht kann niemand von meinen Positionen gewesen sein, aus denen habe ich kein Geheimnis gemacht. Anders als Wagenknecht, die zuerst ihre Position über die Medien bekanntgegeben hat, habe ich immer mein Abstimmungsverhalten vorab in den zuständigen Gremien der Fraktion thematisiert. Als die Yeziden vom »Islamischen Staat« im Sinjar-Gebirge ein­gekesselt wurden, hat die Linkspartei als allererstes die Befindlichkeiten ­ihrer kleinen Anhängerschaft bedient und sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen, während dort ein Völkermord begangen wurde. Ich sprach mich damals deutlich für Waffenlieferungen aus. In der Jungen Welt stellte mich ein Parteikollege daraufhin quasi als Kriegstreiberin dar.


Helin Evrim Sommer ist Historikerin und Genderwissenschaftlerin. Sie trat 1997 in die PDS ein und saß 17 Jahre für die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Von 2017 bis 2021 war sie Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und als Geschäftsführerin der Fraktion für Außenpolitik zuständig. Vergangenes Jahr trat sie aus der Partei aus.