Rassismus in Nordafrika

Der Große Austausch auf tunesische Art

Wegen einer Hetzrede des Präsidenten Kaïs Saïed gegen subsaharische Migranten pausiert die Welt­bank ihr Tunesien-Programm.
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Schließlich reichte es sogar der Weltbank. Am Montag wurde bekannt, dass die Institution Gespräche über ihr künftiges Engagement mit Tunesien unterbrochen hat. Der scheidende Präsident der Institution, David Malpass, kritisierte in einer internen Mitteilung an die Mitarbeiter eine Tirade des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed, die »rassistisch motivierte Belästigung und sogar Gewalt« ausgelöst habe. »Angesichts der Situation hat das Management beschlossen, das Country Partnership Framework zu pausieren und es aus der Überprüfung durch den Vorstand zurückzuziehen«, hieß es AFP zufolge in der Mitteilung.

Bereits am 21. Februar hatte der autoritäre tunesische Präsident auf einem Treffen des nationalen Sicherheitsrats »Horden irregulärer Migranten« aus dem subsaharischen Afrika beschuldigt, für »Gewalt, Verbrechen und inakzeptable Akte« in Tunesien ver­antwortlich zu sein. Es existiere ein »krimineller Plan, die demographische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern, und gewisse Individuen haben große Summen Geld erhalten, um Migranten einen Wohnsitz zu geben«, zitierte ihn Le Monde.

Saïed bestand auf der »Notwendigkeit«, dieser Immigration »schnell ein Ende zu bereiten«. Durch sie solle das Land rein afrikanisch werden und seine muslimisch-arabische Identität verlieren. Eine Million subsaharischer Migranten seien im Land; nach Angaben der NGO FTDES sind es 21 000. Kurz, es handelt sich um die tunesische Fassung der Rhetorik des »Großen Austauschs« – jener Ideologie, die der französische völkische Schriftsteller und Politiker Renaud Camus 2010 ausgebrütet hat und die europäischen Rechtsextremen so lieb und teuer ist.

Die Folgen waren übel für die Migranten: Einige Hundert von ihnen wurden willkürlich festgenommen, in ganz Tunesien wurden Familien aus den Häusern vertrieben, viele verloren ihren Arbeitsplatz, gewaltsame Übergriffe häuften sich.

Dass sich der tunesische Präsident offen der Ideologie des »Großen Austauschs« bedient, ist nur einer der Gründe dafür, dass ihn der US-amerikanische Politologe Daniel Brumberg beschuldigt, einen »postmodernen Neofaschismus« zu errichten.

Die Afrikanische Union, ein Zusammenschluss aus 55 afrikanischen Staaten, drückte »tiefen Schock und Besorgnis« über Saïeds Äußerungen aus, Regierungen aus dem subsaharischen Afrika wie die aus Guinea und der Côte d’Ivoire flogen Hunderte verängstigter Staatsbürger aus Tunesien aus. Doch es gab auch ökonomische Konsequenzen.

Das Magazin Jeune Afrique berichtete am Montag von einem Posting des Präsidenten des Tunisia-Africa Business Council (TABC), Anis Jaziri, in den sozialen Medien, in dem dieser eine ­Bilanz der bisherigen Krisentage gezogen habe: Boykottkampagnen gegen tunesische Produkte, Blockaden von Waren in einigen ­afrikanischen Häfen, Annullierung von Geschäftsreisen und so weiter.

Dass sich der tunesische Präsident offen der Ideologie des »Großen Austauschs« bedient, ist nur einer der Gründe dafür, dass ihn der US-amerikanische Politologe Daniel Brumberg von der ­Universität von Georgetown beschuldigt, einen »postmodernen Neofaschismus« zu errichten. Dieser sei nicht auf einer »großen Lüge« gegründet, sondern auf Dutzenden von Fiktionen, nicht zuletzt denen von den »Feinden des Volks«, die für diverse »Verschwörungen« verantwortlich seien wie Preissteigerungen, die Unterschlagung medizinischer Lieferungen und Bedrohung der Staatssicherheit.

Das Muster ist demnach immer dasselbe: Der Präsident beschuldigt seine Gegner dieser Verbrechen, seine An­hänger verbreiten die Beschuldigungen über die sozialen Medien, Polizei und (Militär-)Justiz verhaften und klagen die Beschuldigten irgendwelcher angeblicher Verbrechen an. Indem sie solche Phantasmen in eine enorme virtuelle Öffentlichkeit verbreiten, ­unterhalten Saïed und seine Alliierten ununterbrochen, Tag für Tag eine Kampagne des Terrors, der Repression und der Rache. Saïed habe damit eine Art neofaschistischen Populismus kreiert, der ein Band zwischen dem Präsidenten und einem nicht zu vernachlässigenden Teil der Bevölkerung geschaffen habe.

Fraglich ist, wie lange das noch funktioniert. Am Samstag vergangener Woche gingen mindestens 5 000 Anhänger des mächtigen Gewerkschaftsverbands UGTT in Tunis auf die Straße, um gegen »Unterdrückung und Tyrannei« zu protestieren. Am Sonntag folgte eine Demons­tration einiger Tausend Anhänger der Nationalen Heilsfront, einem Bündnis liberaler und sozialdemokratischer Parteien inklusive der islamistischen al-Nahda.