Eine Studie fragt nach dem Bedeutungsverlust des Gesellschaftlichen

Laboratorien des Selbstversuchs

Genese und Zerfall der bürgerlichen Lebenswelt: Alexandra Schauers beeindruckende »Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung« ist zugleich ein Beitrag zur Urgeschichte der Moderne.

Die Soziologie der frühen Bundes­republik ging aus einer Kompromissbildung zwischen Konformismus und Dissidenz hervor. Im Vergleich mit der Geschichtswissenschaft, der Philosophie und erst recht den Nationalphilologien schien sie durch personelle und ideologische Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus weniger stark belastet zu sein. Das machte sie attraktiv für junge Wissenschaftler, die im »Dritten Reich« Kinder oder Jugendliche gewesen waren und sich von ihrer Elterngeneration durch ein fortschrittliches und ideologiekritisches Selbstverständnis abgrenzen wollten; die Bedeutung, die der Soziologie für die Achtundsechziger-Bewegung zukam, hatte mit dieser generationellen Prägung zu tun. Andererseits bot die Soziologie gerade als vermeintlich unvorbelastete Disziplin die Möglichkeit, das Beschweigen des Vergan­genen progressiv zu bemänteln: Statt über Geschichte konnte man über kritische Gesellschaftstheorie sprechen.

Weil Schauers Buch beglückend altmodisch ist, folgt auch seine Gliederung einer Herangehensweise, die dem Denken von Simmel, Elias, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin näher ist als dem heutigen akademischen Betrieb.

Das Institut für Sozialforschung (IfS) ist emblematisch für diese Doppeldeutigkeit. Einerseits betreibt es, seit Jürgen Habermas zu seiner prägenden Figur wurde, de facto linkskonformistische Staatssoziologie und ist heute kaum mehr etwas anderes als die akademische Verlängerung zivilgesellschaftlicher NGOs, die wegen der wachsenden Bedeutung von Forschungsge­meinschaften und Stiftungen für die Drittmitteleinwerbung immer offensiver den Universitätsbetrieb beeinflussen. Andererseits ist es ein Gedächtnisort der Kritischen Theorie, die, als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dort wirkten, entgegen einem verbreiteten Missverständnis nicht einfach empirische Sozialforschung, sondern eine ihre eigene Geschichte reflektie­rende Sozialphilosophie betrieb. Diese hatte ihren Ursprung nicht in der frühen Bundesrepublik, sondern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und war verbunden mit Georg Simmel und Helmuth Plessner, Norbert Elias und Max Scheler, die politisch und theoretisch wenig miteinander gemein hatten. Alexandra Schauer, die als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IfS arbeitet, knüpft mit der auf ihrer Dissertation beruhenden Studie »Mensch ohne Welt« an die sozialphilosophischen Ursprünge der Soziologie an, um mit Hilfe dieses produktiv-anachronistischen Prismas gegenwärtige Erfahrungen ­besser zu verstehen.

Weil das Buch beglückend altmodisch ist, folgt auch seine Gliederung einer Herangehensweise, die dem Denken von Simmel, Elias, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin näher ist als dem heutigen akademischen Betrieb. Schauers Physiognomik spätmoderner Vergesellschaftung, die zugleich eine Urgeschichte der Moderne ist, hat drei als »Akte« bezeichnete Kapitel, die exemplarische Erfahrungsweisen der bürger­lichen Epoche bezeichnen: »Zeit und Geschichte«, »Öffentlichkeit« und »Stadt«. Der Konnex von Zeit und Geschichte, in dem das Telos einer den Individuen in der eigenen Re­flexion als sinnhaft gegenwärtigen Synthesis von historischer und biographischer Zeit mitschwingt, war konstitutiv für die bürgerliche Geschichtsphilosophie, die in der Kritischen Theorie ihre späteste Erscheinungsform und schärfste Kritik erfuhr. Öffentlichkeit ist als lebensweltliche Realität erst seit der Epoche des Handelsbürgertums und transnationalen Warenverkehrs dem eigenen Begriff nahe gekommen. Die Stadt schließlich war bereits im Mittelalter als Zentrum von Handel, ­Bildung und Politik und Ort epochentranszendierender Säkularisierung immer der Ort der Bürger.

Einleitend erläutert Schauer in Rekurs auf Hannah Arendts Begriff von »Welt«, der sich vom phänomenologischen Begriff der Lebenswelt durch seinen politischen Gehalt unterscheidet, den erkenntnistheoretischen Ort ihrer Studie. Wie »Welt« bei Arendt »kein unverlierbares Existenzial, sondern einen stets bedrohten Verständigungs- und Gestaltungsraum« meine, der von der Gegenwart mit- und gegeneinander handelnder Menschen und von deren Fähigkeit abhänge, sich als ebenbürtige und ­voneinander unterschiedene Gesellschaftswesen wahrzunehmen, so ­unterscheide sich die Spät- oder Postmoderne von der Moderne durch eine Inversionsbewegung, in der sich die Institutionen, aber auch die Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen des bürgerlichen Alltags ihrer ­eigenen Dynamik folgend selbst untergraben. Den Prozess dieser Umstülpung zeichnet Schauer nicht als eine Geschichte der Dekadenz nach, sondern als eine des Schwindens von Möglichkeiten des Handelns, Denkens und Lebens – womit ihr Buch auch den Zerfall dessen beschreibt, was in der bürgerlichen Epoche Alltag hieß.

Im ersten Akt dieser Geschichte stellt Schauer, anknüpfend an Kracauer, Benjamin und Elias, den Zusammenhang des sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden modernen »Zeitregimes« mit der Transformation der Handarbeit zur industriellen Arbeit und dem Bedeutungswandel des ländlichen Raums dar. Mit mikrologischer Genauigkeit beschreibt sie die Verdrängung der Taschenuhren, die sie als emblematische Objekte des Handelskapitalismus deutet, durch die »die Zeit der Fabrik« verkörpernden Stechuhren bis hin zur in der ­Eisenbahn objektivierten »Weltzeit«, ein Prozess, in dessen Verlauf der Siegeszug der Dampfmaschine in Verkehr und Industrie die zuvor gültigen partikularen und regionalen Einzelzeiten anachronistisch hat werden lassen.

In der Spätmoderne kehrt sich der Prozess der Homogenisierung und Universalisierung von Zeitmessung Schauer zufolge in gewisser Weise um. Am Verschwinden öffentlicher Uhren und an der scheinbaren Re-Individualisierung der Zeitwahrnehmung erst durch Armbanduhren und Quarzuhren und dann durch Handys und I-Phones veranschaulicht sie, wie die im Modus der »Weltzeit« erfahrene Lebenswelt, die die bürgerlichen Individuen den sie trennenden Antagonismen zum Trotz formal zu synthetisieren vermochte, in deren realer Erfahrung immer stärker dissoziiert. Die »Freisetzung« vom Regime der »Weltzeit« geht einher mit der Intensivierung der Abhängigkeit von der undurchdrun­genen Totalität und mit der Delegierung des gesellschaftlichen Zwangs an die zur permanenten Selbstverwaltung angehaltenen Einzelnen.

Im zweiten Kapitel stellt Schauer, das erste Kapitel voraussetzend und zugleich dessen Voraussetzungen ­erläuternd, dar, wie die Ausdifferenzierung der antagonistisch aufeinander bezogenen Sphären des Privaten und der Öffentlichkeit mit der Epoche des Postfordismus zurücktritt zugunsten einer Ökonomie »orga­nisierter Selbstverwirklichung« und einer Sozialpsychologie des »entgrenzten Selbst«, in der die materiellen – die ökonomischen ebenso wie die körperlichen und psychischen – Voraussetzungen für die Fähigkeit der Unterscheidung von Ich und Außenwelt, von Eigenem und Fremdem, tendenziell kassiert werden. Das dritte Kapitel zeichnet diesen Prozess anhand der Transformation der Städte von Orten der Öffentlichkeit, des Handels und der Revolte, die der Möglichkeit der Begegnung mit dem Unbekannten und dem ­Zufall Raum boten, zu postindustriellen »Laboratorien« nach, in denen an die Stelle des Verkehrs als soziales Prinzip das Privat- und Berufsleben miteinander verschmelzende Experiment tritt, das statt Akteuren und Zuschauern nur Teilnehmende kennt und den urbanen Raum als Ort ständiger Selbstversuche ansieht.

Selbstverständlich ist kaum etwas, das Schauer schreibt, wirklich neu, und Leute, die sich von sozialphilosophischen Texten vor allem »Fakten« wünschen, könnten bei der Lektüre ungeduldig werden. Sie hätten dann aber missverstanden, worum es Schauer geht. Die ungeheure Ma­terialfülle, die sie ausbreitet, und das dichte Netz von Antizipationen und Rückverweisen, das sie entfaltet, sind kein Selbstzweck, sondern dienen der präzisen Darstellung einer historischen Konstellation im Moment ­ihrer Selbstverwandlung. Wie man etwas, das noch nicht geworden ist, sondern erst wird, mit Begriffen und Bildern fasst, die dabei sind, Vergangenheit zu werden, obwohl sie noch Gegenwart sind, diese erkenntnis­theoretische Aporie, die auch eine praktische ist, wird von Schauer nicht wortreich besprochen, sondern sprachlich vor Augen gestellt. Dass ihr Buch im heutigen Universitätsbetrieb überhaupt entstehen konnte, macht ein bisschen Hoffnung.
Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2023, 704 Seiten, 34 Euro