Viele Tunesier sehen in den anstehenden Parlamentswahlen eine Farce

Lustlos in die Wahlen

In Tunesien stehen Parlamentswahlen an, die der autoritäre Präsident Kaïs Saïed nach seinem Gusto gestaltet. Der Gewerkschaftsverband UGTT will bis Ende des Monats über einen Generalstreik beraten.

Stell dir vor, es gibt Wahlen, und keiner schaut hin. Ungefähr so lässt sich die Situation in Tunesien vor den Parlamentswahlen, die am 17. Dezember stattfinden sollen, zusammenfassen. Das undurchsichtige Wahlsystem trägt dazu wesentlich bei. Das seit der Revolution von 2010/2011 geltende Listen- und Verhältniswahlrecht wurde durch ein System von Personenwahl nach Mehrheitswahlrecht abgelöst, das zum von Präsident Kaïs Saïed seit anderthalb Jahren betriebenen autoritären Staatsumbau passt. Das erschwert es Wählern, sich eine Vorstellung zu machen, für welches politische Programm die Kandidaten stehen, und genau das ist von Saïed und seinem Apparat auch gewollt. In dieselbe Richtung geht das Verbot, Umfrageergebnisse zur Wahl zu veröffentlichen. Zwar ist solchen Erhebungen nicht immer zu trauen, und auch autoritäre Regime verstehen es oft, die Ergebnisse von Befragungen zu demagogischen und manipulativen Zwecken zu nutzen. Doch in diesem Falle ist es die offenkundige Absicht des Präsidenten, der zudem die sieben Mitglieder der Obersten Wahlbehörde ISIE ernennt, die Wahl so stark wie möglich zu entpolitisieren und zu einem reinen Wettbewerb von Persönlichkeiten zu machen.

Das französischsprachige Wochenmagazin Jeune Afrique bemerkte am Mittwoch voriger Woche dazu: »Ein paar Tage nach dem offiziellen Beginn des Wahlkampfs verbergen viele Tunesier ihre Skepsis und ihre Politikmüdigkeit nicht. Ohnehin beherrscht zur Zeit der Fußball die Szenerie.« Zwar schied Tunesien trotz eines Siegs gegen den amtierenden Weltmeister Frankreich bereits in der Vorrunde der derzeit laufenden Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar aus. Dennoch interessieren die Spiele in Katar die Tunesierinnen und Tunesier weitaus mehr als der Wahlkampf, sofern man überhaupt von einem solchen sprechen kann. 1 058 Kandidaturen wurden für die insgesamt 161 Sitze der Nationalversammlung registriert, darunter dieses Mal nur knapp zwölf Prozent Frauen, doch fehlt es in vielen Wahlkreisen an Kandidaten, so dass dort von Wettbewerb keine Rede sein kann.

In vielen Wahlkreisen fehlt es an Kandidaten für die National­versammlung, so dass dort von Wettbewerb keine Rede sein kann.

Ohnehin dürften die Medien in ihrer Berichterstattung über politische Angelegenheiten peinliche Vorsicht walten lassen. Am 13. September trat eine Prä­sidialverordnung in Kraft, die bei »Verbreitung von Falschnachrichten« bis zu fünf Jahre Haft sowie 50 000 tunesische Dinar (rund 15 000 Euro) Geldstrafe androht – und diese Strafandrohung verdoppelt sich, sofern es sich bei den »Opfern« um Repräsentanten des Staats handelt. Gegenstand der Verordnung mit Gesetzeskraft war offiziell der Kampf gegen Cyberkrimina­lität. Doch von Anfang an machte die tunesische Journalistengewerkschaft SNJT darauf aufmerksam, dass mit der Verordnung Journalistinnen und Berichterstatter eingeschüchtert werden sollen.

In den Wochen nach Erlass des Dekrets wurden mehrere Journalisten vorgeladen und vernommen. Am 29. November verurteilte ein Gericht den Journalisten Khalifa Guesmi zu einem Jahr Haft ohne Bewährung. Es warf ihm die Verbreitung geheimer Daten vor, weil er Informationen über die zuvor erfolgte Zerschlagung einer jihadistischen Terrorzelle im Gouvernement Kairouan publiziert und dabei wegen des Quellenschutzes seinen Informanten nicht genannt hatte. In einer Pressemitteilung einen Tag nach der Verurteilung Guesmis bezeichnete die SNJT solche Strafverfolgungen als »schwere Einschränkung der Demokratie und die Gewährleistung von Grundrechten« in Tunesien.

In einer anderen Justizaffäre ermitteln die Behörden derzeit gegen 25 Menschen unter anderem wegen »Gefährdung der Staatssicherheit«, »Präsidentenbeleidigung« und »Bandenbildung zwecks Vorbereitung eines Umsturzes«. Bei einer Verurteilung droht ihnen eine lebenslange Haftstrafe. Der tune­sischen Website Business News zufolge könnten die Ermittlungen vor allem der Ablenkung des Publikums von den gravierenden sozialen und ökonomischen Problemen, aber auch der Austragung von Machtkämpfen innerhalb der politischen Führungsschicht dienen und schließlich im Sande verlaufen.

Die Affäre kochte hoch, nachdem Fadhel Abdelkafi, seit 2020 Vorsitzender der sozialliberalen Partei Afek ­Tounès, am Flughafen von Tunis erfahren hatte, dass er mit Ausreiseverbot belegt sei. Da er den Grund dafür nicht kannte, erkundigte er sich bei einem regierungsnahen Journalisten, Riadh Jrad, der wiederum erfuhr, Abdelkafi stehe auf einer Liste von Prominenten und Halbprominenten, gegen die wegen gravierender Vorwürfe ermittelt werde.

Sodann stellte sich heraus, dass der Hauptbeschuldigte ein gewisser Walid Balti sei, ein politischer Berufsopportunist, der dem ersten Staatspräsidenten Tunesiens nach dem Sturz Zine al-Abidine Ben Alis, Moncef Marzouki, nahestand, und zeitweilig auch in Saïeds Kreisen präsent war. Balti betrieb seit 2019 eine Gesellschaft für Sportwetten, was eigentlich eine Lizenz zum Gelddrucken darstellte, allerdings auch illegal war, da das Gesetz theoretisch dem Staatsunternehmen Promosport ein Monopol auf Sportwetten verleiht. Nach dem Putsch Saïeds im Juli 2021 wurden mehrere solcher privater Gesellschaften geschlossen, möglicherweise hatten sie der Finanzierung politischer Rivalen gedient. Durch Telefonabhöraktionen wollen die Ermittler daraufhin von einem geplanten Staatsstreich erfahren haben. Beteiligung daran wird einer ganzen Gruppe von Personen vorgeworfen, unter anderem auch der einflussreichen Fernsehjournalistin Maya Ksouri und der Schauspielerin Saoussen Maalej.

Von deren phantasmagorischem Komplott braucht Saïed sich nicht bedroht zu fühlen. Ernster zu nehmen ist die oppositionelle Haltung eines Verbands, der zwar zunächst das Vorgehen des Staatspräsidenten ab Juli 2021 unterstützte – vorrangig, um die parlamentarische Machtbasis der einflussreichen islamistischen Partei al-Nahda zu beschneiden –, sich mittlerweile jedoch von ihm abgewendet hat. Es handelt sich um den wichtigsten tunesischen Gewerkschaftsdachverband, Union générale tunisienne du travail (UGTT), der mit über einer halben Million Mitgliedern in einem Land mit knapp zwölf Millionen Einwohnern einen gewichtigen Faktor darstellt. In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich 1956, unter der Modernisierungsdiktatur von Präsident Habib Bourguiba, war für die UGTT die Hälfte der Ministerposten reserviert. Bis heute betrachtet die UGTT-Führung sich deswegen auch als einen innenpolitischen Machtfaktor und als berechtigt, Ansprüche an den Staat zu stellen, den sie aber letztlich nicht destabilisieren möchte. Nach der Revolution war die Gewerkschaft am Demokratisierungsprozess beteiligt; nachdem 2013 zwei linke Politiker von Jihadisten ermordet worden waren, erklärte die UGTT, die – von al-Nahda dominierte – Regierung existiere für sich nicht mehr, und ebnete den Weg für eine neue Verfassung und Neuwahlen im Jahr darauf.

Seit den jüngst mutmaßlich zwischen der tunesischen Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) getroffenen Vereinbarungen haben Saïed und die UGTT sich überworfen. Die zuletzt kaum noch bestehende Kreditwürdigkeit Tunesiens wurde wieder leicht heraufgestuft und die Auszahlung eines IWF-Kredits über 1,9 Milliarden US-Dollar steht bevor; im Gegenzug sollen Subventionen abgeschafft und Staatsunternehmen privatisiert werden. Am 1. Dezember rief UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi vor einer Menschenmenge im Kongresspalast in Tunis aus: »Wir warnen die Regierung vor jeder Maßnahme, die die Preise für Grundbedarfsgüter erhöht und die Bevölkerung aushungert.« Bislang sind in Tunesien, ähnlich wie fast überall in der Region, Grundnahrungsmittel- und Energiepreise durch Subventionen der öffentlichen Hand gedeckelt. Taboubi verurteilte »Geheimvereinbarungen« mit dem IWF und prangerte die bevorstehenden Parlamentswahlen als »geschmack- und geruchlos« an. Das versammelte Publikum skandierte dazu: »Wahlfarce, Wahlfarce!« Bis Ende Dezember will die UGTT nun ihre Gremien versammeln, um darüber zu beraten, ob sie zum Generalstreik aufruft.