Die Antisemitismusstrategie des Bundes

Gegen den deutschen Höchststand

Die Bundesregierung hat ein Strategiepapier für den immer dringlicher werdenden Kampf gegen Antisemitismus veröffentlicht. Es ist konkret und ambitioniert, muss sich aber erst in der Praxis beweisen.
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In Essen fallen Schüsse auf die Alte Synagoge. In der Kölner Innenstadt wird ein Mann, der eine Kippa trägt, geschlagen und be­leidigt. In Berlin wird bei einem Jugendfußballspiel des jüdischen Vereins Makkabi eine Israel-Flagge gezeigt, woraufhin ein gegnerischer Spieler nach dem Abpfiff droht: » Ich verbrenne euch und eure dreckige Fahne, ihr Bastarde, so wie die Deutschen das mit euch gemacht haben.« Das sind nur drei Beispiele für antisemitische Angriffe, die sich im November ereignet haben. Bereits im vergangenen Jahr hat das Bundeskriminalamt mit 3 027 antijüdisch motivierten Straftaten einen Höchststand festgestellt – knapp 30 Prozent mehr als im Vorjahr.

Die Dunkelziffer ist sogar noch weit höher, denn längst nicht jedes judenfeindliche Delikt wird zur Anzeige gebracht. Hinzu kommen die unzähligen antisemitischen Äußerungen und Handlungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, wie das verschwörungstheo­retische Geraune der Coronaleugner, abfällige Bemerkungen zu jüdischen Symbolen in der Öffentlichkeit oder die Dämonisierung und Delegitimierung Israels. Mag das Entsetzen nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 auch groß gewesen sein – das anschließende Versprechen führender Politiker, den Antisemitismus entschlossen zurück­zudrängen, wurde nicht erfüllt. Im Gegenteil: Der Bericht des Bundeskriminalamts beweist, dass der Hass gegen Juden sogar noch zugenommen hat.

Das liegt auch daran, dass jenes Versprechen nicht mit einer Strategie einherging, weshalb es oft kaum mehr war als ein Lippenbekenntnis. Die Bundesregierung will das nun ändern und hat dazu über ihren Antisemitismusbeauftragten Felix Klein erstmals eine »Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben« (Nasas) veröffentlicht.

Die Nasas hat, wie es in dem 50seitigen Dokument heißt, das Ziel, »Jüdinnen und Juden in Deutschland zu stärken und ihre ­Lebensrealitäten sichtbarer zu machen«. Sie sollen sich »des Rückhalts der Bundesregierung und der Bevölkerung sicher sein«. ­Antisemitismus sei ein »Problem der gesamten Gesellschaft«, die Strategie solle »dazu befähigen, ihn auf allen politischen und ­gesellschaftlichen Ebenen zu verhindern und zu bekämpfen«. Explizit wird Antisemitismus als »eigenständiges Phänomen« benannt, das sich von anderen Formen der Diskriminierung unterscheide und nicht bloß eine Unterform des Rassismus sei. Jüdinnen und Juden erführen zwar einerseits eine Abwertung, würden aber andererseits zugleich als übermächtig imaginiert.

Das Strategiepapier identifiziert fünf Handlungsfelder, auf ­denen Maßnahmen gegen den antisemitischen Hass gebündelt werden sollen: die Erhebung von Daten zu Erscheinungsformen des Antisemitismus, daraus resultierende Lagebilder und weitergehende Forschung; die Vermittlung von Wissen zur Prävention an Schulen, in Vereinen, an Arbeitsstellen und im Alltag; die Erinnerung und das Gedenken, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass es nur noch wenige Shoah-Überlebende gibt, die berichten können; die konsequente Verfolgung antisemitischer Straftaten und die Verbesserung der Sicherheit von Jüdinnen und Juden; die Stärkung und Präsenz des jüdischen Lebens.

Das ist so notwendig wie ambitioniert, denn der Antisemitismus beschränkt sich bekanntlich nicht auf ein bestimmtes politisches Lager, sondern ist allgegenwärtig. Der neuen sogenannten Mitte-Studie der Universität Leipzig zufolge stößt der Schuldabwehr­antisemitismus bei rund 60 Prozent der befragten Deutschen auf Zustimmung. Er äußert sich demnach in Aussagen wie: »Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problem widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.« Wo der Antisemitismus im Alltag hingenommen wird und verbreitet ist, sorgen auch antijüdische Straftaten für kaum mehr als ein Schulterzucken. Gerade in Krisenzeiten erstarkte das antisemitische Ressentiment stets und Juden mussten als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme herhalten. Das ist auch jetzt nicht anders.

Es ist richtig und wichtig, diesen brandgefährlichen Entwicklungen endlich eine Strategie entgegenzusetzen, die sich auch als ­solche begreift. Die Nasas benennt Handlungsfelder, Herausforderungen und konkrete Ziele im Kampf gegen den Antisemitismus und will jüdische Perspektiven stärker wahrnehmen und einbeziehen. Sie erkennt an, dass es eminent wichtig ist, zivilgesellschaftliche Arbeit gegen den Judenhass konsequent zu stärken, auch durch eine stetige und nicht nur projektbezogene Finanzierung. Die Strategie steht bislang allerdings nur auf dem Papier. Wie ihre Um­setzung in der Praxis gelingt, daran wird die Ernsthaftigkeit der Bundesregierung zu messen sein.