Die Revolutionsgarden zum Tanzen bringen
Die Umsturzbewegung, die auf den Tod der 22jährigen Jina Mahsa Amini in den Händen der Sittenpolizei folgte, erschüttert die Islamische Republik Iran nunmehr seit fast drei Monaten. Auch die brutalste Unterdrückung mit Hunderten von Toten und mehr als 15 000 Verhafteten konnte die Proteste nicht zerschlagen, die Demonstrierenden ließen sich nicht einmal durch Berichte von Folter und Massenvergewaltigungen in den Gefängnissen einschüchtern.
Der Aufstand richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die Untergebenen des Obersten Führers Ali Khamenei, sondern gegen den Oberbefehlshaber der Islamischen Republik höchstselbst. In den ersten Tagen der Proteste verkündete die Regimegegnerin Fatemeh Sepehri in einem Videointerview mit dem in London ansässigen persischsprachigen Fernsehsender Iran International: »Liebe Welt, ob ihr helft oder nicht, wir werden keine Ruhe geben, bis wir Khamenei und die Islamische Republik gestürzt haben.« Sepehri ist eine religiöse Frau, die den Tschador trägt, gehört aber zu den radikalsten Kritikerinnen das Herrschaftssystem in der Islamischen Republik. Sie wurde umgehend verhaftet und sitzt bis heute in Einzelhaft.
Gemeinsame Zensuranstrengungen der Behörden Katars mit iranischen Regimevertretern und der Fifa bestätigte auch die ZDF-Korrespondentin Golineh Atai aus Katar.
Die Aufstände der Vergangenheit konnte Khamenei schnell öffentlich verurteilen, deren Beendigung aber getrost den jeweiligen Präsidenten, den Repressionskräften und dem Pseudopluralismus von sogenannten Reformern und Hardlinern des Regimes überlassen, ohne sich aus seiner erhabenen Position in die Niederungen der Tagespolitik begeben zu müssen. Unterstützung erhielt das Regime bei diesem politischen Spiel vor allem aus Deutschland und Europa, wo man die Illusion pflegte, unter den Bedingungen der Islamischen Republik seien substantielle politische Reformen möglich. Der Einfluss der Reformislamisten auf die iranische Gesellschaft hat sich jedoch immer weiter verringert, so dass die Aufhebung des 2015 verhängten Medienbanns für den ehemaligen Präsidenten Mohammad Khatami als Beschwichtigungsmaßnahme verpuffte, nachdem dieser im November verkündete, dass sich das Regime zwar auf die Demonstrierenden zubewegen müsse, ein Ende der Diktatur der Islamischen Republik jedoch »weder möglich noch wünschenswert« sei.
Den Spielraum für innenpolitische Manöver hat Khamenei in den vergangenen Jahren selbst notgedrungen verkleinert: Spätestens die Massaker vom November 2019, als ein sich an Benzinpreiserhöhungen entzündender Massenprotest das Regime an den Rand des Abgrunds brachte, veränderte die Lage, zerstörte im Land die letzten Reformillusionen. Khamenei forderte, den Aufstand mit allen Mitteln niederzuschlagen. In der Folge töteten die Repressionsorgane des Regimes nach Erkenntnissen der Nachrichtenagentur Reuters über 1 500 Menschen, ein Bericht der Organisation Center for Human Rights in Iran vom 2021 geht sogar von über 3 000 Getöteten aus.
Beim derzeitigen Aufstand unter dem Motto »Frau, Leben, Freiheit« zögerte Khamenei wochenlang mit einer öffentlichen Reaktion: Sie hätte gemäß seinem Herrschaftsverständnis nur darin bestehen können, noch härtere Repression anzuordnen, ohne sich aber sicher sein zu können, ob sich seine Fußtruppen noch dauerhaft dafür mobilisieren lassen würden. Denn dem Regime, das seine Ressourcen lieber für den globalen Jihad und den Kampf gegen Israel einsetzt als für heimische Belange, kommt die Herrschaftslegitimation abhanden. Deshalb versucht es, Anführer der Oppositionsbewegung auf heimischem Territorium zu identifizieren und zu beseitigen. Der populäre regimekritische Rapper Toomaj Salehi ist nur ein Beispiel hierfür. Er wurde Ende Oktober festgenommen. Ihm droht die Hinrichtung, weil ihn die Justiz der Islamischen Republik der »Verdorbenheit auf Erden« anklagte. Den ebenfalls mittlerweile weltbekannten Blogger Hossein Ronaghi ließ das Regime nach einem 64tägigen Hungerstreik auf Kaution frei. Anscheinend befürchtet es, sein Tod könne die Proteste weiter anheizen.
Für kurze Zeit schien die Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar einen propagandistischen Ausweg zu bieten. Eine der kürzlich geleakten Tonaufnahme von einer Rede des Kommandeurs der paramilitärischen Basij-Miliz, Ghasem Ghoreyshi, zeigt die enge Kollaboration Katars mit der Islamischen Republik. Diese Kooperation umfasste Ghoreyshi zufolge sowohl die Unterdrückung von Antiregimeprotesten bei der WM in Katar wie die Inszenierung einer Propagandashow für die Teheraner Machthaber mittels eingeflogener Regimeanhänger. Gemeinsame Zensuranstrengungen der Behörden Katars und iranischer Regimevertreter und der Fifa werden auch durch journalistische Recherche bestätigt, so in Berichten der ZDF-Korrespondentin Golineh Atai aus Katar.
Im Iran kursierten derweil bizarre Bilder von Fußballfeiern tanzender mit Gewehren und Schlagstöcken bewaffneter Basij-Milizionäre. Der Traum, dass die iranische Fußballbegeisterung die Proteste mildern könnte, platzte jedoch spätestens, als die Niederlage der Nationalmannschaft gegen die USA von Tausenden von Menschen im Iran gefeiert wurde.
Das größte Problem des Herrschaftssystems der Islamischen Republik besteht heutzutage darin, dass sich die Aufmerksamkeit der Welt auf seinen innenpolitischen Zustand anstatt auf seine vermeintliche Weltgeltung richtet, die auf terroristischen Provokationen beruht. Das kratzt an der Rolle als weithin akzeptierter global player.
Die Hackergruppe Black Reward veröffentlichte interne Dokumente des iranischen Regimes, aus denen hervorgeht, dass die Proteste und Streiks im Iran wesentlich größer sind, als das Regime zugeben will. Presseberichten zufolge lässt sich den Dokumenten des Weiteren entnehmen, dass Khamenei seine Untergebenen anwies, ins Zentrum ihrer Propaganda die Behauptung zu stellen, die Proteste würden aus dem Ausland gesteuert. Denn nur die ideologische Identifizierung der Opposition mit einer ausländischen (Welt-)Verschwörung kann alle Zweifel, die in den Milizen des Regimes wachsen, zerstreuen. Nur so können sich diese weiterhin zu der entgrenzten Gewalt gegen iranische Oppositionelle legitimiert fühlen, in denen sie dann nicht den Nachbarn, die Landsfrau oder Jugendliche und Kinder sehen, sondern gesichtslose Agenten des Westens oder Israels.
Dieser Linie entspricht die Militarisierung der Aufstandsbekämpfung in den Provinzen Sistan-Belutschistan, in der die meisten Demonstrierenden erschossen wurden, und Kurdistan, in der die Islamische Republik bereits nach dem Tod Mahsa Aminis versuchte, die Empörung darüber als Komplott ausländischer Geheimdienste und kurdischer Separatisten darzustellen, und exilkurdische Organisationen im Nordirak bombardierte.
In Deutschland war das Echo auf die revolutionären Ereignisse im Iran zunächst verhalten. Charlotte Wiedemann schrieb noch Mitte Oktober in der linken Taz, es sei »weder im Inland noch im Ausland eine demokratische Kraft erkennbar, die in Teheran Verantwortung übernehmen könnte, wenn das jetzige System implodiert«, und warnte vor dem Sturz des Regimes. Rainer Hermann mahnte in der FAZ fast wortgleich: »Sollte eine Revolution Erfolg haben, dann würde dem Land (…) eine Implosion drohen. Anders als 1979 gibt es weder im Ausland und noch weniger im Inland eine organisierte Opposition, die das Vakuum füllen könnte.« Es bestehe »das Risiko, dass künftig von dem Land eine noch größere geopolitische Gefahr ausgehen wird«. Im November beklagte er »Hasskampagnen« der regimekritischen iranischen Diaspora, deren Opfer unter anderem der in die Kritik geratene Iran-Berater des Auswärtigen Amts, Adnan Tabatabai, sei.
Doch unter dem Druck der Ereignisse im Iran, vor dem Hintergrund iranischer Drohnenlieferungen für Russlands Krieg in der Ukraine und wachsender Kritik an der jahrzehntelangen deutschen und europäischen Kooperation mit der Islamischen Republik veränderte sich die politische Szenerie etwas. Ende Oktober verkündete Außenministerin Annalena Baerbock, sie wolle prüfen lassen, ob die EU die Revolutionsgarden (IRGC) als Terrororganisation einstufen könne. Wie ernst es die Bundesregierung damit meint, bleibt allerdings fraglich. Erst kürzlich sagte Katja Keul, eine Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Voraussetzung für eine solche Einstufung der IRGC seien Ermittlungen oder eine Strafverfolgung gegen deren Mitglieder, die es bisher nicht gebe. Die Aussage verwundert, beispielsweise erging 2017 ein rechtskräftiges Urteil gegen einen Angehörigen der Quds-Brigaden der IRGC, der den ehemaligen Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Reinhold Robbe als potentielles Anschlagsziel ausspionierte. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen stellt die Absicht der Regierungskoalition in Frage, die Terrorlistung aktiv zu betreiben. Aktivisten fordern die Bundesregierung auf, Sanktionen gegen die IRGC und ihre Netzwerke in Deutschland einzuleiten.
Derweil steigt die von der Islamischen Republik ausgehende Terrorgefahr in den westlichen Ländern. Laut dem ehemaligen US-Regierungsberater Matthew Levitt, der im Bereich der Terrorismusbekämpfung forschte, wurden von 124 seit 1979 aufgedeckten Terrorplänen aus dem Iran 36 in den vergangenen zwei Jahren vorbereitet, so die Washington Post. Im Fall mehrerer Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen Mitte November vermutet die Bundesanwaltschaft eine Urheberschaft der IRGC.
Für den 5. bis 7. Dezember waren weitere landesweite Proteste im Iran angekündigt worden. Die Äußerungen von Mohammed Jafar Montazeri, dem Generalstaatsanwalt der Islamischen Republik, über eine angeblich bevorstehende Abschaffung der Sittenpolizei klassifizieren iranische Oppositionelle als Trick. Andererseits zeigt diese Meldung durchaus, unter welchen Druck die nicht enden wollende Aufstandsbewegung die Herrscher der Islamischen Republik setzt. Der Journalist Mehdi Mahdavi Azad beschrieb die Situation sinnbildlich: Früher hätten Revolutionsgarden und Basiji Menschen aus Angst vor unkontrollierbaren Situationen geschlagen, wenn sie einen Sieg der Fußballnationalmannschaft tanzend feierten, »jetzt haben wir sie zum Tanzen gebracht«.