Kurdwin Ayubs Spielfilm „Sonne“ überzeugt durch seine Realitätsnähe

Die Band trug Hijab

Die österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt in ihrem großartigen Coming-of-Age-Film »Sonne« von drei Freundinnen, die über Nacht zu Social-Media-Ruhm gelangen. Aber die Rolle als Influencer in der muslimischen Community stellt die jungen Frauen vor große Herausforderungen.

Alles beginnt mit einer alltäglichen Alberei dreier Wiener Teenagerinnen nach der Schule. Gehüllt in die Hijabs der strenggläubigen Mutter der kurdischstämmigen Yesmin, filmen sich die Freundinnen beim Twerken und Performen des Neunziger-Jahre-Hits »Losing My Religion« von R.E.M. Einmal auf Youtube hochgeladen geht der Clip viral und macht Yesmin (Melina Benli), Nati (Maya Wopienka) und Bella (Law Wallner) im Internet bekannt. Bald werden sie zu Auftritten bei muslimischen Hochzeitsfesten und zu Fernsehdiskussionen eingeladen. Die jungen Frauen müssen plötzlich auch über Religion, Respekt und Freiheit sprechen. In einer Talkshow versichern sie, dass sie niemanden mit ihrer Show und ihrem Outfit kränken wollten. Vielmehr gehe es ihnen darum, andere junge Frauen zu inspirieren und zu zeigen, dass auch religiös empfindende Menschen tanzen und singen dürfen.

Im Mittelpunkt von Kurdwin Ayubs Spielfilmdebüt »Sonne«, das in diesem Jahr auf der Berlinale für einiges Aufsehen sorgte und als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, steht Yesmin. Die Oberschülerin mit kurdischen Wurzeln ist als einzige des Trios muslimischen Glaubens und trägt das Kopftuch nicht nur fürs Video. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Kerim lebt sie in einer beengten Hochhauswohnung in einer Wiener Vorstadt. Ein Riss geht durch die Familie. Zwar haben Yesmin und ihr Vater Omar ein vertrautes Verhältnis, wie es sich in einer Szene zeigt, in der sie ihm den behaarten Rücken rasiert. Doch die Mutter wirft ihrem Mann vor, kein gutes Vorbild abzugeben. Vor allem um den pubertierenden Sohn kümmere er sich nicht genug. Der streunt nachts mit seinen Freunden herum und tut zu wenig für die Schule.

Während Bella, die sich als »Halb-Jugo« bezeichnet, und Nati, eine Wienerin ohne Migrationshintergrund, ihre neue Rolle als Influencer in der muslimischen Community mit wachsender Begeisterung ausfüllen, hadert Yesmin mit den religiösen Traditionen.

Das Musikvideo stellt Yesmin vor Probleme, die ihre beiden Freundinnen nicht immer nachvollziehen können. Bella und Nati haben ihre Freundin Yesmin auch gar nicht ­gefragt, ob diese mit der Veröffentlichung einverstanden wäre. So ist Yesmin überrascht und schlecht vorbereitet, als Kerim den Eltern das ­Video auf seinem Smartphone zeigt. Die Mutter, die in der Familie Herkunft und Religion repräsentiert, reagiert empört und fühlt sich und ­ihren Glauben lächerlich gemacht. Auch dass Yesmin abwiegelt und sagt, die Mutter übertreibe, trägt nicht zur Beruhigung der Situation bei. ­Vater Omar hingegen freut sich an den positiven Kommentaren und möchte selbst gern weitere hinzufügen. Gegen den Willen seiner Frau schwingt er sich sogar zum Manager der A-capella-Band auf, was alles noch schlimmer macht. Omar vermittelt den Teenagerinnen Auftritte, fährt sie zu Festen, tanzt mit ihnen, beginnt, seinen Bart zu färben, und gibt sich so jugendlich, dass ihn auch seine Tochter häufiger zu tadeln beginnt.

Während Bella, die sich als »Halb-Jugo« bezeichnet, und Nati, eine Wienerin ohne Migrationshintergrund, ihre neue Rolle als Influencer in der muslimischen Community mit wachsender Begeisterung ausfüllen, hadert Yesmin sowohl mit den religiösen Traditionen als auch mit der Begeisterung der Freundinnen für diese. Außerdem bereiten ihr Kerims nächtliche Eskapaden Sorgen; Yesmin versucht, die Aufgaben des Vaters zu übernehmen und den Bruder zur Vernunft zu bringen, was aber kaum gelingen kann. Hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Welten und Anforderungen droht sie langsam zu verstummen und in Lethargie zu versinken. Dann jedoch erscheint sie zu einem gemeinsamen Auftritt mit ihren Freundinnen erstmals unverschleiert und mit einem Rock, den sie spontan auf einer Toilette gekürzt hat. Damit gerät die Rollenverteilung in der Mädchengang endgültig durcheinander. Als die Freundinnen nach dem Gig drei junge kurdische Patrioten kennenlernen und Bella und Nati entgegen Yesmins Warnungen mit ihnen anbandeln, spitzt sich die Lage weiter zu.

Die 1990 geborene Kurdwin Ayub hat vor ihrem Spielfilmdebüt bereits mit Kurzfilmen und dem Dokumentarfilm »Paradies! Paradies!« (2016) auf sich aufmerksam gemacht. Sie versteht sich als »Teil der ersten Social-Media-Generation«, wie sie im Interview für das Presseheft zu »Sonne« erzählt. In ihrer Arbeit gehe es ihr darum, die Freiheiten, die die Grenzenlosigkeit des Internets insbesondere für jugendliche und randständige Ausdrucksformen bedeutet, möglichst authentisch in die (Bild-)Sprache der Akteure zu übertragen. Auch die Schattenseiten der sozialen Medien wie Hass, Neid und Depressionen aufgrund ausbleibender Likes werden berücksichtigt. »Im Film wollte ich Wirklichkeit haben, deshalb haben viele der Jugendlichen die ­Videos selbst gedreht«, beschreibt die Regisseurin ihr Vorgehen.

So entwickelte sie viele Szenen erst beim Dreh gemeinsam mit den Darstellerinnen. Dabei gab sie die Grundidee vor und ließ die Jugendlichen dann improvisieren. Die angestrebte Instagram- oder Snapchat-Optik lässt sich vergleichsweise billig produzieren, Voraussetzung hierfür war vor allem das gegenseitige Vertrauen, das Ayub mit ihren Hauptdarstellerinnen bereits in den Jahren vor den Dreharbeiten aufgebaut hatte. Allerdings heißt das nicht, dass alle Darsteller Rollen übernommen hätten, die sie auch im wirklichen Leben spielen. Vielmehr beschreibt Ayub es als eine ihrer bevorzugten Kreativtechniken, die Charaktere gegen den Strich spielen zu lassen und beispielsweise ihrer Mutter eher Eigenschaften zuzuweisen, die in der Realität ihrem Vater zuzuordnen ­wären, und umgekehrt.

Das spielerische Aufmischen der sich am Set ergebenden Familienaufstellung sowie die Reibung während ihrer Ausarbeitung tragen zur Tiefe der Figuren bei. Das Zusammenspiel funktioniert so gut, dass unterschwellige Aggressionen und Rivalitäten zwischen den Mädchen genauso beiläufig erfahrbar werden wie sich verändernde Bindungen innerhalb der Familie, wenn sich die Ereignisse in Wien und den kurdischen Gebieten zuspitzen.

Neben dem Material ihres Kameramanns Enzo Brandner, den sie nach eigenen Angaben immer wieder anwies, weniger ästhetische Bilder zu produzieren, fanden auch viele mit zusätzlichen (Handy-)Kameras gedrehte Sequenzen sowie die Clips, die die Protagonistinnen selbst beim Spielen mit ihren Smartphones aufnahmen, Eingang in die fertige Schnittfassung. Das Ergebnis ist in seiner rauen Authentizität ziemlich einzigartig im Arthouse-Kino, zu dem Ayub ihren Film rechnet.

Tatsächlich stellt sich beim Ansehen das Gefühl ein, dass man selten derart glaubhafte Charaktere auf der Leinwand gesehen hat. Dass die Dramaturgie dementsprechend in Teilen weniger zielgerichtet und am Ende nicht jede Frage geklärt ist, schmälert die Wirkung des Films keineswegs. Eher verstärkt auch das den Eindruck, hier einen wirklich neuen Einblick in ein immer noch zu wenig bebildertes Milieu zu erhalten.

Sonne (Österreich 2022). Buch und Regie: Kurdwin Ayub. Darsteller: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka und andere. Kinostart: 1. DezemberAlles beginnt mit einer alltäglichen Alberei dreier Wiener Teenagerinnen nach der Schule. Gehüllt in die Hijabs der strenggläubigen Mutter der kurdischstämmigen Yesmin, filmen sich die Freundinnen beim Twerken und Performen des Neunziger-Jahre-Hits »Losing My Religion« von R.E.M. Einmal auf Youtube hochgeladen geht der Clip viral und macht Yesmin (Melina Benli), Nati (Maya Wopienka) und Bella (Law Wallner) im Internet bekannt. Bald werden sie zu Auftritten bei muslimischen Hochzeitsfesten und zu Fernsehdiskussionen eingeladen. Die jungen Frauen müssen plötzlich auch über Religion, Respekt und Freiheit sprechen. In einer Talkshow versichern sie, dass sie niemanden mit ihrer Show und ihrem Outfit kränken wollten. Vielmehr gehe es ihnen darum, andere junge Frauen zu inspirieren und zu zeigen, dass auch religiös empfindende Menschen tanzen und singen dürfen.

Im Mittelpunkt von Kurdwin Ayubs Spielfilmdebüt »Sonne«, das in diesem Jahr auf der Berlinale für einiges Aufsehen sorgte und als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, steht Yesmin. Die Oberschülerin mit kurdischen Wurzeln ist als einzige des Trios muslimischen Glaubens und trägt das Kopftuch nicht nur fürs Video. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Kerim lebt sie in einer beengten Hochhauswohnung in einer Wiener Vorstadt. Ein Riss geht durch die Familie. Zwar haben Yesmin und ihr Vater Omar ein vertrautes Verhältnis, wie es sich in einer Szene zeigt, in der sie ihm den behaarten Rücken rasiert. Doch die Mutter wirft ihrem Mann vor, kein gutes Vorbild abzugeben. Vor allem um den pubertierenden Sohn kümmere er sich nicht genug. Der streunt nachts mit seinen Freunden herum und tut zu wenig für die Schule.

Das Musikvideo stellt Yesmin vor Probleme, die ihre beiden Freundinnen nicht immer nachvollziehen können. Bella und Nati haben ihre Freundin Yesmin auch gar nicht ­gefragt, ob diese mit der Veröffentlichung einverstanden wäre. So ist Yesmin überrascht und schlecht vorbereitet, als Kerim den Eltern das ­Video auf seinem Smartphone zeigt. Die Mutter, die in der Familie Herkunft und Religion repräsentiert, reagiert empört und fühlt sich und ­ihren Glauben lächerlich gemacht. Auch dass Yesmin abwiegelt und sagt, die Mutter übertreibe, trägt nicht zur Beruhigung der Situation bei. ­Vater Omar hingegen freut sich an den positiven Kommentaren und möchte selbst gern weitere hinzufügen. Gegen den Willen seiner Frau schwingt er sich sogar zum Manager der A-capella-Band auf, was alles noch schlimmer macht. Omar vermittelt den Teenagerinnen Auftritte, fährt sie zu Festen, tanzt mit ihnen, beginnt, seinen Bart zu färben, und gibt sich so jugendlich, dass ihn auch seine Tochter häufiger zu tadeln beginnt.

Während Bella, die sich als »Halb-Jugo« bezeichnet, und Nati, eine Wienerin ohne Migrationshintergrund, ihre neue Rolle als Influencer in der muslimischen Community mit wachsender Begeisterung ausfüllen, hadert Yesmin sowohl mit den religiösen Traditionen als auch mit der Begeisterung der Freundinnen für diese. Außerdem bereiten ihr Kerims nächtliche Eskapaden Sorgen; Yesmin versucht, die Aufgaben des Vaters zu übernehmen und den Bruder zur Vernunft zu bringen, was aber kaum gelingen kann. Hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Welten und Anforderungen droht sie langsam zu verstummen und in Lethargie zu versinken. Dann jedoch erscheint sie zu einem gemeinsamen Auftritt mit ihren Freundinnen erstmals unverschleiert und mit einem Rock, den sie spontan auf einer Toilette gekürzt hat. Damit gerät die Rollenverteilung in der Mädchengang endgültig durcheinander. Als die Freundinnen nach dem Gig drei junge kurdische Patrioten kennenlernen und Bella und Nati entgegen Yesmins Warnungen mit ihnen anbandeln, spitzt sich die Lage weiter zu.

Die 1990 geborene Kurdwin Ayub hat vor ihrem Spielfilmdebüt bereits mit Kurzfilmen und dem Dokumentarfilm »Paradies! Paradies!« (2016) auf sich aufmerksam gemacht. Sie versteht sich als »Teil der ersten Social-Media-Generation«, wie sie im Interview für das Presseheft zu »Sonne« erzählt. In ihrer Arbeit gehe es ihr darum, die Freiheiten, die die Grenzenlosigkeit des Internets insbesondere für jugendliche und randständige Ausdrucksformen bedeutet, möglichst authentisch in die (Bild-)Sprache der Akteure zu übertragen. Auch die Schattenseiten der sozialen Medien wie Hass, Neid und Depressionen aufgrund ausbleibender Likes werden berücksichtigt. »Im Film wollte ich Wirklichkeit haben, deshalb haben viele der Jugendlichen die ­Videos selbst gedreht«, beschreibt die Regisseurin ihr Vorgehen.

So entwickelte sie viele Szenen erst beim Dreh gemeinsam mit den Darstellerinnen. Dabei gab sie die Grundidee vor und ließ die Jugendlichen dann improvisieren. Die angestrebte Instagram- oder Snapchat-Optik lässt sich vergleichsweise billig produzieren, Voraussetzung hierfür war vor allem das gegenseitige Vertrauen, das Ayub mit ihren Hauptdarstellerinnen bereits in den Jahren vor den Dreharbeiten aufgebaut hatte. Allerdings heißt das nicht, dass alle Darsteller Rollen übernommen hätten, die sie auch im wirklichen Leben spielen. Vielmehr beschreibt Ayub es als eine ihrer bevorzugten Kreativtechniken, die Charaktere gegen den Strich spielen zu lassen und beispielsweise ihrer Mutter eher Eigenschaften zuzuweisen, die in der Realität ihrem Vater zuzuordnen ­wären, und umgekehrt.

Das spielerische Aufmischen der sich am Set ergebenden Familienaufstellung sowie die Reibung während ihrer Ausarbeitung tragen zur Tiefe der Figuren bei. Das Zusammenspiel funktioniert so gut, dass unterschwellige Aggressionen und Rivalitäten zwischen den Mädchen genauso beiläufig erfahrbar werden wie sich verändernde Bindungen innerhalb der Familie, wenn sich die Ereignisse in Wien und den kurdischen Gebieten zuspitzen.

Neben dem Material ihres Kameramanns Enzo Brandner, den sie nach eigenen Angaben immer wieder anwies, weniger ästhetische Bilder zu produzieren, fanden auch viele mit zusätzlichen (Handy-)Kameras gedrehte Sequenzen sowie die Clips, die die Protagonistinnen selbst beim Spielen mit ihren Smartphones aufnahmen, Eingang in die fertige Schnittfassung. Das Ergebnis ist in seiner rauen Authentizität ziemlich einzigartig im Arthouse-Kino, zu dem Ayub ihren Film rechnet.

Tatsächlich stellt sich beim Ansehen das Gefühl ein, dass man selten derart glaubhafte Charaktere auf der Leinwand gesehen hat. Dass die Dramaturgie dementsprechend in Teilen weniger zielgerichtet und am Ende nicht jede Frage geklärt ist, schmälert die Wirkung des Films keineswegs. Eher verstärkt auch das den Eindruck, hier einen wirklich neuen Einblick in ein immer noch zu wenig bebildertes Milieu zu erhalten.


Sonne (Österreich 2022). Buch und Regie: Kurdwin Ayub. Darsteller: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka und andere. Kinostart: 1. Dezember