Viktor Schklowskis Roman »Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die Dritte Helois«

Über mich für dich

Kein Liebesroman, aber dennoch voller romantischer Gefühle: »Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise«, geschrieben vor hundert Jahren im Berliner Exil vom russischen Schriftsteller Viktor Schklowski, ist in einer Neuübersetzung erschienen.

Viktor Schklowski, 1893 in Sankt Petersburg geboren, 1984 in Moskau gestorben, ist heute im deutschsprachigen Raum in erster Linie bekannt als wichtiger Vertreter der literaturkritischen Schule des Russischen Formalismus, die ihre Blütezeit zwischen 1915 und 1930 erlebte. Damit gilt er zugleich als ein Vordenker des Strukturalismus. Sein lite­rarisches Werk ist trotz einiger deutscher Übersetzungen vor allem aus den sechziger und siebziger Jahren – erschienen in Ost wie West, von Suhrkamp bis Volk und Welt – weitgehend in Vergessenheit geraten. In den vergangenen Jahren haben sich allerdings Kleinverlage wie Die Andere Bibliothek und zuletzt der Berliner Guggolz-Verlag um die Wiederentdeckung des Literaten verdient gemacht, woran vor allem die Über­setzerin Olga Radetzkaja großen Anteil hat.

Für die Neuübersetzung des 1923 erschienenen Buchs »Sentimentale Reise«, worin Schklowski seine Erlebnisse während der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre in Russland von 1917 bis zu seiner Ankunft in Berlin 1922 beschreibt, wurde Radetzkaja 2019 mit dem renommierten Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet; das Buch war 2017 beim bibliophilen Verlag Die Andere Bibliothek erschienen. Für den nicht einmal zehn Jahre alten Guggolz-Verlag, der sich der Wiederentdeckung nord- und osteuropäischer Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschrieben hat, besorgte Radetzkaja nun die Neuübertragung von Schklowskis Brief­roman »Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise« – so der ­vollständige Titel der Erstausgabe, die im Gelikon-Verlag in Berlin 1923 auf Russisch erschienen war.

Schklowski schreibt über das Wetter in Berlin und das Klima in Russland, über den Zoo und die gefangenen Tiere, über das Judentum in Russland (»Russland liebt die Juden nicht«), über literarische Methoden und dann doch immer wieder über Alja.

Das Werk entstand in der Zeit zwischen Juli 1922 und Sommer 1923, als der Autor in Berlin und Bad Saarow lebte. Er war zuvor über den zugefrorenen Finnischen Meerbusen am Rande der Ostsee zunächst nach Finnland geflohen. In der Russischen ­Sowjetrepublik war Schklowski, der den oppositionellen Sozialrevolutionären nahestand, von der herrschenden Bolschewiki bedroht. Seine Ehefrau Ljussja ließ er dort zurück, sie wurde eine Zeitlang ins Gefängnis geworfen. Trotz aller Sorge um seine Frau verliebte sich Schklowski in die angehende Schriftstellerin Elsa Triolet, die Schwester von Lilja Brik, der Ehefrau des Formalisten ­Ossip Brik und zeitweisen Geliebten des futuristischen Dichters Wladimir Majakowskij. Triolet erwiderte Schklowskis Gefühle allerdings nicht. In dieser Situation entstand Anfang 1923 der Briefroman, bestehend aus 29 Briefen, davon sieben von Alja, wie die an Triolet angelehnte Figur heißt. Unklar bleibt, ob Schklowski dafür Briefe von Triolet verwendet oder bearbeitet hat.

Das Nachwort von Olga Radetzkaja verrät nicht nur einiges über die ­Entstehung sowie die Vor- und Nachgeschichte des Briefromans, es geht auch auf Schklowskis Formwillen, seinen Stil und die damit verbundenen Herausforderungen für die Übersetzung ein. »Schklowski will nicht ›schön‹ schreiben, er operiert mit einem überschaubaren Wortschatz und harten Kontrasten: abrupte Richtungs- und Tonartwechsel, unvermitteltes Nebeneinander kurzer und kürzester Absätze, akzentuierte ­Satzenden, gefolgt von Stille.« Mit der stilistischen Tradition der etablierten Gattung des (Liebes-)Briefromans hat das nur bedingt zu tun. All ­diese Elemente entsprechen jedoch Schklowskis maßgeblichem Beitrag zur Literaturtheorie und kritischen Ästhetik, seinem Begriff der ostranenije, der literarischen Verfremdung oder Abweichung.

Nachdem er 1916 in Petrograd (Sankt Petersburg) die Gruppe Opojas (kurz für: Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache) mitgegründet hatte, formulierte er im folgenden Jahr in dem Aufsatz »Kunst als Verfahren« seine Kernthese zur lite­rarischen Ästhetik. Das Gewohnte der Sprache schwäche die bewusste Aufmerksamkeit, deshalb solle die Literatur mit formalen Gepflogenheiten brechen, um die aktive Wahr­nehmung der Lesenden zu steigern: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert«, schreibt Schklowski. Kritisch ließe sich einwenden, dass es sich bei diesem Verfahren um eine elitär anmutende Regelästhetik handelt, mit der Schklowski wohl vor allem auf ein vorgebildetes und ­experimentierfreudiges Kunstpublikum abzielte.

Nur in den ersten Briefen verleiht der Verfasser seiner Verliebtheit Ausdruck; sein Gegenüber Alja weist ihn sogleich freundschaftlich in die Schranken: »Ich brauche Dich, weil Du weißt, wie man mich aus mir ­herauslockt. Aber schreib mir nicht von Liebe. Mach keine wilden Szenen am Telefon. (…) Ich brauche meine Freiheit, mir soll niemand auch nur Fragen stellen dürfen. Du dagegen forderst meine komplette Zeit. Du musst leicht sein, sonst wird es nichts mit der Liebe!«

Also schreibt Schklowski über das Wetter in Berlin und das Klima in Russland, über die Charakteristika russischer Künstler, über den Zoo und die gefangenen Tiere, über das Judentum in Russland (»Russland liebt die Juden nicht«), über literarische Methoden, und dann doch immer wieder über Alja. Die Briefe zeigen, dass der Schriftsteller im Berliner Exil nicht angekommen war und vermutlich auch nicht ankommen wollte, da seine Gedanken um die zurückgelassenen Freunde und die ­Familie in Russland kreisten. In einem Brief bittet er sogar die Mitg­lieder des Opojas-Zirkels, sie mögen dafür demonstrieren, dass ihm die Rückkehr nach Russland erlaubt werde. Als Rettungsanker im Berliner Exil dient seine Fixierung auf die junge Schriftstellerin. Seine Obsession wirkt bisweilen sogar unangenehm beim Lesen, und es ließe sich gut ­darüber streiten, ob dies sogar die Absicht des Romans ist.

Das vorletzte Schreiben Aljas bringt den Briefwechsel noch konziliant auf den Punkt: »Du schreibst über mich – für Dich, ich schreibe über mich – für Dich.« Im 28. Brief des Romans verbittet sie sich dann allerdings jedweden weiteren Liebesbrief: »Du schreibst unter wechselndem Vorwand immer dasselbe. Hör auf, mir zu schreiben, dass du mich so, so, so liebst, denn beim dritten ›so‹ ­fange ich an, an etwas anderes zu denken.« Sein letzter Brief ist nicht mehr an die Angebetete gerichtet, sondern an das Zentrale Exekutiv­komitee GZEK. Der Autor bittet darum, nach Russland (das inzwischen in der Sowjetunion aufgegangen ist) zurückkehren zu dürfen.

Auch auf Fürsprache von Maxim Gorkij und Wladimir Majakowskij hin wurde ihm die Wiedereinreise gestattet. Schklowski zog noch im selben Jahr zurück nach Moskau, obwohl ihn seine Frau Ljussja im Sommer 1923 noch brieflich vor der Rückkehr gewarnt hatte: »Fliegen kann man durch die Luft, aber nicht ohne Luft. Bei uns ist die Luft schlecht, hier gibt es gar keine Luft.« Doch Schklowski sah auch in Mitteleuropa keine Zukunft und antwortete ihr: »Mit Europa geht es zu Ende, Ljussik, aus politischer Verantwortungslosigkeit und Nationalismus. Es wird Nacht in Europa.« Schon im Frühjahr 1922 schrieb er an Gorkij, der Ende 1923 von Berlin nach Italien ging und erst 1931, auch aufgrund des italie­nischen Faschismus, nach Russland zurückkehrte, dass es ihm nach ­seiner Rückkehr schwerfallen werde, sich mit dem Regime der Bolschewisten zu arrangieren: »Ich weiß, ich werde lügen müssen.«

Die zweite Ausgabe des Briefromans erschien 1924 in einem Verlag in Leningrad. In der ihr fehlen nicht nur die meisten Briefe von Alja – um den Ruch des Ehebruchs abzumildern –, sondern auch weitere Briefe, die zum Teil durch andere ersetzt wurden. In einer eigens für diese Ausgabe verfassten Einleitung, die keinerlei politische Kommentare enthält, stellte Schklowski süffisant fest: »Ein Mensch mit russischen Umgangsformen ist in Europa so lächerlich wie ein zottiger Hund in den Tropen.« In der dritten Ausgabe von 1964 fehlen weitere als problematisch erachtete Textpassagen. Getilgt wurden zum Beispiel Sätze über den inzwischen bei der sowjetischen Führung in Ungnade gefallenen Schriftstellerkollegen Boris Pasternak. All dies wird in der Guggolz-Ausgabe gut dokumentiert, die später hinzugekommenen Briefe finden sich im Anhang.

Von Elsa Triolet hatte sich Schklowski über seiner Arbeit am Briefroman offenbar entliebt, ohne dass er darüber seine Wertschätzung für sie verloren hätte. Vor seiner Abreise gen Osten bat er den befreundeten Gorkij, der auch als Herausgeber sehr umtriebig war, sich für Triolet und deren schriftstellerische Arbeit einzusetzen: »Diese Frau ist ein sehr großer Mensch. Ein notwendiger für die Literatur. Und ich liebe sie wirklich nicht. Ich habe sie einen Monat nicht gesehen und ihr nicht geschrieben.« Gorkij erkannte ihr literarisches Talent ebenso wie Schklowski und ermutigt sie zur Fertigstellung ihres Debüts »In Tahiti« (1926). Triolet, die zunächst auf Russisch und später auf Französisch schrieb, wurde 1944 für ihren Roman »Le Premier Accroc coûte deux cents francs« als erste Frau mit dem Prix Goncourt, der höchsten literarischen Ehrung in Frankreich, ausgezeichnet.

Viktor Schklowski: Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. Mit einen Essay von ­Marcel Beyer. Guggolz, Berlin 2022, 189 Seiten, 22 Euro