Die Wahl ­zwischen Lula da Silva und Bolsonaro ist die zwischen Krisenverwaltung und Barbarei

Zwischen Krisenmanagement und Barbarei

In den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen liegt der ehemalige Präsident und Kandidat der Arbeiterpartei, Luiz Inácio »Lula« da Silva, weit vor dem Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Lula steht für den Erhalt der demokratischen Errungenschaften, nicht aber für soziale Verände­rungen. Bolsonaros neoliberaler Populismus verschafft diesem keine Mehrheiten mehr.

»Es kann nicht anders kommen: Wir werden schon im ersten Durchgang gewinnen!« rief der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro seinen Anhängen vom Balkon der Botschaftsresidenz in London zu, als er dort vor zwei Wochen an den Trauerfeierlichkeiten zum Tod von Königin Elisabeth II. teilnahm. Doch in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag liegt Bolsonaro mit 17 Prozentpunkten Abstand weit hinter seinem wichtigsten Kontrahenten, dem ehemaligen Präsidenten und Vorsitzenden der Arbeiterpartei, Luiz Inácio »Lula« da Silva.

Als Bolsonaro vor vier Jahren ins Präsidentenamt gewählt wurde, hatte sich die regierende Arbeiterpartei (PT) zuvor in ganz Brasilien unbeliebt gemacht. Den populären Lula, dem dennoch gute Chancen auf einen Wahlsieg eingeräumt worden waren, hinderte eine umstrittene und später aufgehobene Verurteilung wegen Geldwäsche und Korruption an einer Kandidatur. In der zweiten Hälfte von Bolsonaros Amtszeit drehte sich die Stimmung gegen ihn. Die Gründe hierfür liegen vor allem in seiner Coronapolitik, der Verschärfung der Wirtschaftskrise und den juristischen Rückschlägen in den Korruptionsverfahren gegen Lula.

Bolsonaro vertritt die fanatischsten Teile der Streitkräfte, die sich dem politischen Öffnungsprozess seit den achtziger Jahren widersetzt haben.

2018 genoss Bolsonaro breite gesellschaftliche Zustimmung in allen sozialen Schichten: von den Wirtschaftseliten bis hin zu den Ärmsten; unter ihm rückten auch Rechtspopulisten und das evangelikale Milieu stärker zusammen. Sein wichtigstes Wählerreservoir bildete jedoch die Mittelschicht. Dieses Fundament begann während der Pandemie zu bröckeln, als der wirtschaftspolitische Leitsatz »Je weniger Staat, desto besser« auch die Coronapolitik bestimmte und zur Ablehnung von staatlicher Intervention zur Eindämmung des Virus führte.

Bolsonaro hat das Land mit irrlichternden Maßnahmen durch die Zeit der hohen Covid-19-Sterblichkeit geführt, die dazu dienten, die durch Covid-19 verschärfte soziale Krise politisch auszunutzen. Gleichzeitig wurden Korrup­tionsvorwürfe gegen die Familie des Präsidenten laut sowie die Verstrickungen des Bolsonaro-Clans mit den Milizen öffentlich thematisiert. Ein beträchtlicher Teil der Mittelschicht ging daher auf Distanz zu ­Bolsonaro.

Dass der vor vier Jahren so viele Stimmen aus der ärmsten Bevölkerungsschicht gewinnen konnte, ist zum Teil auf die Abwesenheit Lulas bei der letzten Wahl zurückzuführen. Während seiner Amtszeit wurde Bolsonaros zeitweilige Popularität bei der armen Bevölkerung jedoch schnell durch die steigende Arbeitslosigkeit und den Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise untergraben. Die Regierung macht in der Tat keine Politik für die Ärmsten, sondern betreibt die Deregulierung von Arbeits- und Sozialrechten, nach dem Motto: »Lieber Arbeit ohne Rechte als Rechte ohne Arbeit.« Die arme Wählerschaft ist weiterhin offen für den Einfluss des Rechtsextremismus – vor allem aufgrund der Ausbreitung fundamentalistischer evan­gelikaler Sekten –, doch die Erinnerung an die ökonomische Wachstumsperiode und die Verbesserungen, die die »Ära Lula« gebracht hatte, ist noch immer präsent.

Am 7. September 2021 scheiterte Bolsonaro mit Putschdrohungen. Nach dem Vorbild des Sturms auf das Kapitol in den USA hatte Bolsonaro seine Anhänger auf die Straßen mobilisiert und das Justizministerium auf diese Weise einzuschüchtern versucht. Bolsonaro war gezwungen, seine Angriffe auf die Institutionen zurückzunehmen und mit dem Kongress zu verhandeln. Er übergab einen erheblichen Teil des Regierungshaushalts an die Parlaments­leitung. Das verkleinerte in der Praxis die Gräben zwischen dem traditionellen Parteiensystem und Bolsonaros Rechtspopulimus, die für dessen »Anti-Establishment Pose« im Wahlkampf 2018 entscheidend gewesen waren. Mit diesem Arrangement war ein wichtiges ideologisches Element der bolsonaristischen »Antipolitik« geschwunden. Der Bolsonaro-Clan wendet sich nun vor allem gegen das elektronische Wahlsystem, dem er ohne Anhaltspunkt Anfälligkeiten für Wahlfälschungen unterstellt. Bolsonaro fordert eine parallele Stimmauszählung durch das ihm ­nahestehende Militär.

Die Wahl Lulas zum Präsidenten im Jahr 2002 stand eher für die Krise des neoliberalen Modells nach einem Jahrzehnt der Deregulierung und »Moder­nisierung des Staats« als für ein linkes Projekt mit tiefgreifenden sozialen Reformvorhaben. Die Regierungspolitik beschränkte sich auf eine Reihe von Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der sozialen Krise. Lula schloss einen »Sozialpakt« mit den traditionellen Parteien, zu denen der PT bis dahin Distanz gewahrt hatte. Mit Unterstützung der wirtschaftlichen Führungsschicht bemühte er sich, den Konsum der armen Bevölkerung zu steigern. Dieses Modell war erfolgreich, wirkte aber weniger befriedend als geplant. Denn für die Mittelschicht hatte diese Politik nichts anzubieten, weswegen sie zur wichtigsten Kraft bei der Absetzung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff 2016 wurde. Lulas »Sozialpakt« funktionierte vor allem in den ersten Jahren, bis die Auswirkungen der Krise von 2008 dessen ökonomische Basis nach und nach untergruben und ihn destabilisierten. Ein Jahrzehnt nach Beginn der globalen Krise schließlich wählte Brasilien die vermeintlich heilbringende Mischung aus billigem Populismus mit Vernichtungsrhetorik, Marktextremismus und religiösem Fundamentalismus.

Ein wesentlicher Bestandteil des Rechtspopulismus ist eine von der Mittelschicht getragene Revolte gegen das politische System. Dabei spielte in Brasilien die »Operation Lava Jato« (Operation Autowäsche) eine zentrale Rolle, eine Antikorruptionsoperation mit fingierten Beweisen gegen den PT. Die Medien unterstützten diese Kampagne. Vor »Lava Jato« lief die populistische Kritik am Parteiensystem eigentlich immer auf die Forderung nach einem Eingreifen der Streitkräfte in den politischen Prozess hinaus. »Lava Jato« hingegen war der Angriff auf das politische System mittels einer juristisch-medialen Kampagne. Die Operation wurde als fast schon messianische »Erlösung der Nation« von der Korruption inszeniert, die als originär im PT verwurzeltes Problem dargestellt wurde. Die juristische Offensive gegen den ehemaligen Präsidenten Lula wurde bald zu einer Offensive gegen die gesamte Basis der Vorgängerregierungen und für die Kandidatur Bolsonaros, mit dem sich die »Lava Jato«-Staatsanwälte und -Richter 2018 verbündeten. Bereits im darauffolgenden Jahr wurden jedoch zahlreiche Unregelmäßigkeiten dieser »Operation« aufgedeckt, die ihre politische Motivation offenbarten. Dies führte auch zur Aufhebung der Urteile gegen Lula.

Nach Lulas Freilassung und der Wiederherstellung seiner politischen Rechte wenden sich ehemalige politischen Gegner und Vertreter der marktextremistischen Agenda ihm wieder zu – vor allem in den Regionen, in denen er einen großen Vorsprung in den Wahlumfragen hat. Während die Kritik an der etablierten Politik vom Rechts­populismus besetzt wird, fällt es dem Hauptvertreter der politischen Linken zu, mehr oder weniger wie 2002 auf einen Pakt mit der alten politischen ­Führungsschicht hinzuarbeiten.

Bei diesen Wahlen geht es also um den Erhalt des politischen Systems, das durch den Demokratisierungsprozess nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 geschaffen wurde – mit einer linken Führung, die als Schutzmacht eines bank­rotten und diskreditierten Systems dient. Bolsonaro hingegen ist trotz ­seiner taktischen Manöver dort, wo er schon immer war: Er vertritt die fanatischsten Teile der Streitkräfte, die sich dem Öffnungsprozess seit den acht­ziger Jahren widersetzt haben.

Lula steht nicht einmal mehr für soziale Reformen, sondern nur noch für die Krise der alten Arbeiterbewegung und des linken Projekts. Während er also die Verwandlung der Politik in ein reines Krisenmanagement betreibt, bei dem »Dialog« und »soziales Feingefühl« die drakonisch wirtschaftslibe­rale Politik der Kürzungen und des Sozialabbaus kompensieren sollen, umgarnt Bolsonaro die Armen nicht mehr wie in der vorangegangenen Wahl und präsentiert sich als reine Manifestation des institutionellen Abbaus und der wirtschaftlichen Ausplünderung.

Diese Radikalisierung kommt ihm nicht zugute. Wenn man den Umfragen trauen kann, hat Lula sogar eine reale Chance auf einen Sieg in der ersten Runde. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Amtsübergabe reibungslos verlaufen wird. Der Bolsonarismus bleibt in einem fundamentalistisch-evangelikalen Milieu und in radikalisierten Teilen der Mittelschicht stark. Hier raunt man über die »kommunistische Be­drohung« in Lateinamerika und phantasiert über die Verfolgung von Kirchen, während die diffuse Gewalt von Polizeikräften und einsamen Fanatikern zunimmt. Darüber hinaus steigen auch Zahl und Stärke bewaffneter und ideologisch radikalisierter Gruppen, die direkt vom Bolsonaro-Clan gefördert werden. Dieser paramilitärische Apparat bedroht unmittelbar den politischen Übergang auf eine neue Regierung und deren Stabilität.

Ein Wahlsieg Lulas dürfte zu weitaus größeren Spannungen als 2002 führen. Das Attentat auf Cristina Kirchner in Argentinien ist ein Beispiel für diese Eskalation. Zudem dürfte es schwierig werden, die damaligen wirtschaftlichen Erfolge Bra­siliens unter den gegenwärtigen Bedingungen zu wiederholen. Zur Dringlichkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sagte Lula kürzlich auf einer Kund­gebung in São Paulo: »Ich wollte Ihnen sagen, dass ich nicht weiß, wie ich es machen soll.«