Die Politik Brasiliens wird von Katholizismus und evangelikalem Christentum ­geprägt

Spaltung der Gläubigen

Etwa 90 Prozent der brasilianischen Wähler bezeichnen sich als Christen. Die konfessionellen Unterschiede korrelieren deutlich mit der politischen Präferenz.

»Ein wahrer Christ kann kein Sozialist sein!« Deutlicher kann der dem bra­si­lianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro (Partido Liberal, PL) nahestehende evangelikale Prediger Silas Mala­faia seine Abneigung gegen den linken Gegenkandidaten und ehemaligen Präsidenten, Luiz Inácio »Lula« da Silva von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), kaum ausdrücken, ohne Namen zu nennen. Denn direkte Wahlwerbung innerhalb von Glaubensgemeinschaften ist in Brasilien per ­Gesetz verboten. Dennoch haben christliche Kirchen enormen Einfluss auf die Politik des offiziell laizistischen Staates.

Fast 90 Prozent der 150 Millionen Wähler in Brasilien bekennen sich zum Christentum. Insgesamt leben in Bra­silien 212 Millionen Menschen, davon sind etwa 108 Millionen Katholiken; ­ihnen stehen 65 Millionen Mitglieder protestantischer Kirchen – die meist neupfingstlich-evangelikal ausgerichtet sind – gegenüber. Noch handelt es sich um das Land mit der größten katholischen Bevölkerung der Erde, doch der Anteil der Protestanten wächst seit vielen Jahren beständig im selben Maße, in dem der der Katholiken sinkt.

Die fanatischsten Anhänger des Präsidenten Jair Bolsonaro sind meist evangelikale Christen.

Bolsonaro gilt als Kandidat der evangelikalen Kirchen. Im Jahr 2018 hatte er sich in Israel im Jordan zum zweiten Mal taufen lassen, was viele als Übertritt zur einer evangelikalen Kirche interpretierten – die Zweittaufe ist ein gängiges Aufnahmeritual in Freikirchen. Offiziell ist Bolsonaro nie aus der katho­lischen Kirche ausgetreten, er lässt seine konfessionelle Zugehörigkeit aber bewusst in der Schwebe. Lula da Silva dagegen ist bekennender Katholik und bezieht sich in Reden oft auf seinen Glauben.

Einige der bekannteren evangelikalen kirchlichen Vereinigungen wie die Assembléia de Deus (Vereinigung Gottes) existieren seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihr rapides Wachstum begann aber erst in den siebziger Jahren, nicht zuletzt durch die Nutzung von Massenmedien wie Fernsehen und ­Radio. Da sie von den Gläubigen den in manchen Bibelstellen vorgeschriebenen Zehnten einkassieren, sind einige der Kirchen steinreich und verfügen über eigene Medienkonzerne.

So bedeutsam ihre Fernseh- und Radioprogramme auch sind, der wichtigste Faktor für den Erfolg der evangelikalen Sekten ist ihre Präsenz im Alltag der Menschen. Sie finden ihre Gläubigen meist in der marginalisierten ­Bevölkerung – in abgelegenen und verarmten ländlichen Regionen, vor allem aber in den Armenvierteln der Großstädte. Dort, wo oft das staatliche Gewaltmonopol durch die Herrschaft der organisierten Kriminalität ersetzt wird, ist auch die katholische Kirche selten präsent. Dort leisten die evangelikalen Gemeinden Basisarbeit in gegenseitiger Unterstützung und organisieren damit nicht zu unterschät­zende Lebenshilfe, etwa bei der Kinderbetreuung. Der Preis dafür ist, dass damit die Propagierung eines erzkonservativen Familienbilds und nicht selten fanatischer Hass unter anderem auf die LGBT-Bewegung ein­hergeht.

Die katholische Kirche, die auch in Brasilien unter Priestermangel leidet, kann der evangelikalen Präsenz wenig entgegenhalten. Zwar sind katholische Priester in den Armenvierteln oder im Amazonasgebiet häufig genauso engagiert für die alltäglichen Belange der Gläubigen, doch es sind einfach zu wenige. Während der Amazonassynode im Jahr 2019 schlugen deshalb einige südamerikanische Bischöfe vor, das Priesteramt für verdiente und »moralisch gefestigte« verheiratete Männer zu öffnen, was allerdings am Widerstand der konservativen Kirchenhierarchie scheiterte.

Dass die evangelikalen Kirchen bei der armen Bevölkerung so erfolgreich ist, erscheint paradox, vertreten sie doch meist extrem kapitalistische Werte. In den evangelikalen Sekten Bra­siliens wird häufig eine Form der sogenannten Erfolgstheologie (prosperity gospel oder Wohlstandsevangelium) gepredigt: Gesundheit, beruflicher Erfolg und Wohlstand sind dieser Lesart des Evangeliums zufolge äußere ­Zeichen der erhaltenen Gnade Gottes.

In der katholischen Kirche Brasiliens dagegen finden sich weiterhin zahlreiche Vertreter der Befreiungstheologie, die in den sechziger Jahren in Lateinamerika entstanden ist. Sie predigen die »Option für die Armen«, das heißt, die Gläubigen werden dazu angehalten, sich für den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft einzusetzen. Innerhalb des PT und auch linker Bewe­gungen wie der Landlosengewerkschaft Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) spielt die Befreiungstheologie seit jeher eine enorm große Rolle.

Es wäre aber zu einfach zu sagen, alle katholischen Brasilianer würden für Lula stimmen, alle evangelikalen für Bolsonaro. Innerhalb der brasilianischen katholischen Kirche gibt es auch extrem konservative Strömungen, die Bolsonaro unterstützen. Ebenso gibt es evangelikale Kirchen in den Armenvierteln, die von der hasserfüllten ­Rhetorik des Präsidenten abgestoßen sind.

Es ist aber nicht zu leugnen, dass die fanatischsten Anhänger des Präsidenten meist evangelikale Christen sind. Sie sehen in Bolsonaro einen von Gott ­ausgewählten Führer, der das Land vor »Genderwahn« und »Kommunismus« retten soll. Von den kircheneigenen Medienimperien mit entsprechenden Botschaften gefüttert, sind viele evangelikale Christen für Gegenargumente nicht mehr zu erreichen. Und ihr Einfluss wächst: In einigen Jahrzehnten könnten sie die Mehrheit der Christen im Land stellen.