Die französische Regierung hat eine austeritäre Rentenreform angekündigt

Ran an die Rente

Die französische Regierung hat tiefe Einschnitte bei der Rente angekündigt. Dagegen regt sich Widerstand.

Es war eine lupenreine Freud’sche Fehlleistung. Am Montagvormittag sagte die seit Mitte Mai amtierende französische Ministerpräsidentin Élisabeth Borne im Frühstücksinterview bei den Fernsehsendern RMC und BFM TV: »Der Dialog wird nicht von uns ausgehen.« Dann korrigierte sie sich lächelnd: »Die Blockade des Dialogs wird nicht von uns ausgehen.«

In den Minuten zuvor hatte sie verkündet, was nun durchgesetzt werden soll. So hat es ihr Vorgesetzter, Staatspräsident Emmanuel Macron, beschlossen, auch wenn Borne selbst bisher beim Thema Zweifel nachgesagt wurden: Die mehrfach angekündigte, doch seit 2020 auch von Regierungsseite als inopportun eingestufte und mehrfach aufgeschobene Rentenreform soll nun definitiv kommen. Macrons Regierungslager hat im Parlament lediglich eine relative Mehrheit. Notfalls, so Borne, werde man auf den Verfassungsartikel 49 Absatz 3 zurückgreifen.

Dieser berühmt-berüchtigte Passus erlaubt es, die Diskussion im Parlament über einen Gesetzestext auszusetzen und stattdessen die Vertrauensfrage für die Regierung zu stellen. Scheitert das Misstrauensvotum, gilt der Gesetzestext automatisch und ohne weitere Diskussion als angenommen. Der ­unter Charles de Gaulle ersonnene Mechanismus dient also hauptsächlich dazu, die parlamentarische Debatte zu einem Thema abzuwürgen und eine Abstimmung zu vermeiden.

Die Regierung unter Präsident Ma­cron hatte im März 2020 bereits dazu ­angesetzt, eine Rentenreform auf diesem Weg durchzubekommen. Dem waren mehrwöchige Streiks unter anderem in den öffentlichen Verkehrsbetrieben und in manchen privaten Industrieunternehmen vorausgegangen. Doch dann kam die Pandemie. Das Parlament hatte deswegen dringendere Themen zu behandeln und nach Inkrafttreten des Gesetzes zum gesundheitlichen Notstand verfolgte die Regierung einige Monate lang eine eher keyne­sianisch wirkende Staatsausgabenpolitik. Da in Frankreich während der ersten Welle der Pandemie weite Teile des Wirtschaftslebens eingefroren und bis zu zehn Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden, rief ­Macron damals die Devise aus: »Was es auch kosten möge!« Das war nicht ­besonders neoliberal, sollte allerdings auch nicht von Dauer sein.

Im Frühjahr dieses Jahres sagte sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, die neue Parole laute nunmehr: »Was kostet das?« Staats- und andere Sozialausgaben, etwa die von den – paritätisch von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden verwalteten – Sozialkassen getätigten, sollen nun gleichermaßen auf den Prüfstand. Und die im ersten Jahr der Pandemie tatsächlich um mehrere Hundert Milliarden Euro gestiegene Staatsverschuldung soll nun als Rechtfertigung für eine Form neuer Austeritätspolitik herhalten, die tradi­tionelle soziale Errungenschaften zurücknimmt.

Zwar soll die Reform nunmehr schon vor Jahresende durch das Parlament gebracht werden und ab kommenden Sommer in Kraft treten. Doch sind noch nicht einmal die Grundzüge bekannt. So blieb bis Mitte dieser Woche noch unbekannt, ob das gesetzliche Rentenmindestalter von derzeit 62 auf 64 oder 65 Jahre angehoben werden soll, und ob es neben einer höheren Altersgrenze auch weitere, sogenannte strukturelle Maßnahmen – wie etwa neue Anrechnungsmodalitäten bei der Bewertung der Lebensarbeitszeit – geben soll.

Es soll also wohl sehr schnell gehen. Macron regte an, es brauche ja gar kein eigenes Gesetz zur Rentenreform, es genüge vielmehr, eine Passage in das jährlich zu verabschiedende Gesetz zum Gesamthaushalt der Sozialkassen – über den der Staat seit Reformen von 1967 und 1995 trotz paritätischer Verwaltung mitbestimmt – einzufügen. Diese dürfte in einem solchen Fall verklausuliert ausfallen und eventuell einem neu zu schaffenden Gremium zur Rentenpolitik weitreichende Vollmachten erteilen. Mitglieder des Regierungslagers wie der Rechtsliberale François Bayrou, aber dem Vernehmen nach auch Ministerpräsidentin Borne selbst waren jedoch skeptisch, ob man so vorgehen solle. Sie befürchteten, es könne bei einem solchen »Hauruckverfahren« (passage en force) zu einer »explosiven sozialen Situa­tion« kommen, und befürworteten eher einen eigenen, expliziteren und mit den Gewerkschaften zumindest formal diskutierten Entwurf zur Rentenpolitik.

Für Donnerstag dieser Woche haben die die französischen Gewerkschaften ohnehin Demonstrationen und Proteste angekündigt. Ihr Aktionstag war schon seit längerem – zunächst von der CGT – angesetzt worden, es ging dabei vor allem um Forderungen nach höheren Löhnen wegen der hohen Inflation. Nun könnte ein Mobilisierungserfolg in den Augen der Regierung auch als Gradmesser dafür dienen, was sie sich derzeit in der Rentenfrage erlauben kann.

Einen anderen, eigenen Aktionstag unter dem Motto »Gegen das teure ­Leben und klimapolitische Untätigkeit« hat die linkspopulistische Partei La France insoumise (LFI) auf den 16. Oktober angesetzt. An diesem Sonntag wollen die Gewerkschaften jedoch nicht mitziehen; ihre Vorstände vertreten die Auffassung, es obliege nicht einer politischen Partei, den sozialen Protest zu organisieren. Wie bereits 2017 drohen sich LFI und Gewerkschafts­apparate dabei Konkurrenz zu machen und in die Quere zu kommen. LFI ­befindet seit dem dritten Septemberwochenende in einer schweren Krise, nachdem Vorwürfe häuslicher Gewalt gegen ihren jungen Abgeordneten ­Adrien Quatennens laut geworden waren; er gab mittlerweile zu, seine Frau geohrfeigt zu haben. Quatennens trat als »Koordinator« von LFI zurück, doch Parteiführer Jean-Luc Mélenchon veröffentlichte eine Nachricht auf Twitter, die als Unterstützung für den bislang als sein möglicher Nachfolger gehandelten Quatennens ausgelegt wurde – seither ist die öffentliche Meinung LFI nicht wohlgesonnen, auch die internen Konflikte sind hart.