Wie der Dichter J. M. R. Lenz durch Riga irrte

Eines kurzen Lebens Reise in die Nacht

Von Riga nach Weimar und zurück: Die Biographie des Dichters J. M. R. Lenz gleicht einem Irr- und Kreisweg, sein Werk einem Ruinenfeld. Eine Erinnerung.

Im Juli 1779 fuhr Lenz übers Meer. Sein jüngerer Bruder Karl hatte ihn einen Monat zuvor in Hertingen im Markgräflerland, wo Lenz wegen seiner sich verschlimmernden psychischen Verfassung bei einem Nervenarzt in Behandlung war, abgeholt und ihn nach einer Zwischenstation in Lübeck per Schiff nach Riga ­begleitet. Die Reise war eine späte Heimkehr.

Als Sohn eines pietistischen Pfarrers war Lenz 1751 in Seßwegen (dem heutigen Cesvaine) östlich von Riga zur Welt gekommen. Als er neun Jahre alt war, zog die Familie nach Dorpat (heute Tartu), das wie Lenz’ Heimatort im russischen Ostseegouvernement Livland lag und der Verwaltung der deutsch-baltischen Adelsbürokratie unterstand. Lenz’ Vater hatte in Dorpat eine Pfarrstelle erhalten, er selbst strebte ein Studium der Theologie an. Bis 1771 pendelte Lenz in seiner Heimatregion umher, schrieb erste Gedichte und studierte in Dorpat und dann an der Albertus-Universität zu Königsberg Theologie, hörte aber auch philosophische Vorlesungen bei Immanuel Kant, der ihn mit dem Werk Jean-Jacques Rousseaus vertraut machte. Lenz’ erste Buchveröffentlichung, das epische Gedicht »Die Landplagen«, erschien 1769. Zwei Jahre später, nach dem Bruch mit seinem strengen Vater, brach Lenz sein Studium ab, um als Diener der Offiziersanwärter Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist nach Straßburg zu gehen. Der Weggang aus der deutsch-baltischen Heimat war Auftakt zu einer Schriftstellerlaufbahn, die bald wieder endete, aber eine umso längere posthume Wirkungsgeschichte hatte.

Zieht man den inneren Zusammenhang seines Werks in Betracht, erscheinen die späte Rückkehr nach Riga und das plötzliche Ende in Moskau, wo Lenz am 4. Juni 1792 tot in einer Straße aufgefunden wurde, weniger als tragisches Ende eines jungen Genies denn als sinnlose Folge von Zufallsereignissen.

Erforscht ist vor allem Lenz’ Leben seit Beginn seiner durch den Philosophen Johann Daniel Salzmann vermittelten Bekanntschaft mit Goethe, um die sich einander widersprechende Mythen ranken. Goethe bewunderte Lenz’ Begabung und sein Interesse an der sozialen Wirksamkeit von Literatur, hegte aber eine Abneigung gegen seine Unfähigkeit zu Diplomatie. Lenz’ Beziehung zu Goethe war die des Nachfolgenden, Hinterherkommenden. 1772 ver­liebte er sich in Goethes ehemalige Geliebte Friederike Brion, ohne dass sie seine Gefühle erwidert hätte. Diese Liebe und die phantasmatische ­Fixierung auf Goethe bildeten in den folgenden Jahren sozusagen das Skript für weitere, immer einseitige Schwärmereien sowie für Lenz’ Bekanntschaften mit anderen Dichtern. Ob es um Goethes mit dem Historiker Johann Georg Schlosser verheiratete Schwester Cornelia ging, um die junge Adelige Henriette Louise de Waldner de Freundstein, die Lenz nur über Briefe kannte, oder um Freundschaften mit Autoren wie ­Johann Caspar Lavater und Johann Gottfried Herder: Die meisten Bindungen, die Lenz einging, waren auf Dritte ausgedehnte Versuche, die ­Beziehung zu Goethe symbolisch zu wiederholen, zu variieren, zu er­neuern.

Eben an der Obsession mit Goethe scheiterte die reale Beziehung zu diesem. Ein halbes Jahr, nachdem Lenz im Frühjahr 1776 Goethe an den Weimarer Hof nachgereist war, kam es zu einem Eklat, den Goethe in seinem Tagebuch als »Lenzens Eseley« bezeichnete und den die Goethe- wie die Lenz-Forschung bis heute vergeblich zu rekonstruieren versucht. Vermutlich handelte es sich um ein diplomatisches Fehlverhalten, zum Teil hervorgerufen durch die Nachricht über die Heirat Henriette Louise de Waldners mit dem Straßburger Freiherrn Siegfried von Oberkirch, die Lenz mit der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen konfrontierte, durch erotische Beziehungen sozial aufzusteigen. Goethe brach im Winter 1776 alle Beziehungen zu Lenz ab, auch die Weimarer Hofgesellschaft schloss ihn aus ihren Kreisen aus, und er begann ein Wanderleben, das ihn zunächst zu Cornelia und Johann Georg Schlosser, dann nach Zürich und schließlich zu dem Schweizer Mediziner Christoph Kaufmann führte, der ihn an den Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im elsässischen Waldersbach vermittelte, in dessen Haus sich der an schizophrenen Schüben leidende Lenz erholen sollte. Der endgültige Zusammenbruch, der sich im Zuge dieses Aufenthalts ereignete, steht im Mittelpunkt von Georg Büchners 1839 posthum erschienener Novelle »Lenz«, durch die Lenz in Deutschland bekannter wurde als durch sein eigenes Werk. Nach diesem Zusammenbruch wurde Lenz von seinem Bruder nach Riga gebracht.

Die beiden Lenz-Mythen, die seit dem 19. Jahrhundert über den Dichter gestrickt wurden, beziehen sich in komplementärer Weise auf diese Leidensgeschichte. Der erste Mythos ist heute fast vergessen. Er folgt dem Selbstverständnis Goethes und der Weimarer Klassik, wonach Lenz sowohl ein Überflieger wie ein Versager, sowohl Genie wie zerstörerischer Quertreiber gewesen sei. Dieser Mythos spielte die Konventionen des sich vom Hofstaat emanzipierenden aufstrebenden Bürgertums, wie es im politischen und künstlerischen Erfolg Goethes repräsentiert war, gegen die Provokationen des Außen­seiters aus. In ihm figuriert Lenz als Verkörperung des Grotesken, als Repräsentant einer Dichtung der Absurdität, der abgebrochenen Gesten und verweigerten Kommunikation. Solche Lenz-Kritik ist nicht allein veraltet, es ist auch in Vergessenheit geraten, was an ihr triftig war: Künstlerisches Scheitern und die Unfähigkeit, geistige Impulse in bleibende Formen zu überführen, ergeben allein noch keine Widerständigkeit, sondern können auch Index eines pubertären Spontaneismus sein.

Der zweite Lenz-Mythos, der den ersten überlebt hat, löst dieses Problem, indem er Lenz zum Vorläufer ­einer engagierten Literatur erklärt. Mehr als durch Büchner, dessen ­Novelle Lenz gerecht wird, indem sie ihn als ebenso erfolg- wie zukunftslosen Charakter porträtiert, wurde dieser Mythos durch Bertolt Brechts 1950 aufgeführter Adaption von Lenz’ 1774 entstandenem Drama »Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung« geprägt, in der Brecht die dramaturgische Inkonsistenz und die groteske Alogizität von Lenz’ Stück im Sinne seiner Dramaturgie des Epischen Theaters deutete. Diese Lesart war einerseits triftig, denn Lenz verarbeitete in seinem Stück eigene Erfahrungen mit dem Stand des Haushofmeisterwesens. Andererseits blendete Brechts Interpretation die grellen Übertreibungen und Harlekinaden aus, an denen bereits Lenz’ konservative Gegner ­Anstoß genommen hatten.

Zwischen Goethes und Brechts Lenz-Deutungen blieb lange Zeit wenig Raum für eigenständige Lektüren. Auch die Topographie von Lenz’ Lebensgeschichte wurde gemäß dieser beiden Deutungen verstanden: Weimar als Ort der Selbstbegründung einer deutschen Weltliteratur; Riga, Sankt Petersburg und Moskau, wo Lenz die Jahre bis zu seinem Tod 1792 verbrachte und mit Anarchisten, Freimaurern und russischen Sozialreformern Kontakt hatte, als Orte einer mit Weimar unvereinbaren Sozialutopie.

Instruktiver für das Verständnis von Lenz’ Leben und Werk sind Studien, die sich wirklich mit seinem ­sozialgeschichtlichen Erfahrungshintergrund beschäftigen. Schon 1958 hat der Germanist Albrecht Schöne in seiner Studie »Säkularisation als sprachbildende Kraft« über die Dichtung deutscher Pfarrerssöhne gezeigt, dass die Gleichzeitigkeit von Pathos und Melancholie, von Individualismus und Depression in Lenz’ Werk sich als Niederschlag des unausgetragenen Konflikts zwischen pietistischer Innerlichkeit und sozialer Revolte deuten lässt. Als Ausdruck einer durch die beschränkten Möglichkeiten politischen Handelns nach innen gestauten, sich in selbstverzehrender Melancholie gegen das Subjekt wendenden bürgerlichen Emanzipationsbestrebung hat auch Hans Mayer sein Werk gedeutet, der im Zusammenhang mit seinen Studien zur Figur des Außenseiters ­immer wieder auf Lenz zurückgekommen ist.

Lenz selbst hat den exterritorialen Blick zum Ausgangspunkt seiner Werke gewählt – sei es in dem Drama »Der neue Menoza« (1774) in der Figur des aus der Ferne ankommenden Reisenden, der die Selbstverständlichkeiten der Zivilisation ihrer Unplausibilität überführt, sei es in dem Briefroman »Der Waldbruder« (1776), der Goethes »Leiden des jungen Werthers« (1774) parodiert, oder eben im Sozialcharakter des in feudalen Diensten steckengebliebenen Bürgers in »Der Hofmeister« und »Die Soldaten« (1776). Zieht man diesen inneren Zusammenhang seines Werks in Betracht, erscheinen die späte Rückkehr nach Riga und das plötzliche Ende in Moskau, wo Lenz am 4. Juni 1792 tot in einer Straße aufgefunden wurde, weniger als tragisches Ende eines jungen Genies denn als sinnlose Folge von Zufalls­ereignissen, die genauso wenig wie sein Werk einen positiven Sinn stiften. In der Gedichtzeile »Ich aber werde dunkel sein/Und gehe meinen Weg allein« hat Lenz diese weder ­heroische noch einfach in den Bereich der Psychopathologie gehörende Selbstverfinsterung vorweg­genommen.