Bei lebenswichtigen Medikamenten gibt es Lieferschwierigkeiten

Heile sich, wer kann

Viele Medikamente werden knapp, insbesondere wenn sie günstig und effizient sind. Aber es fehlen auch lebenswichtige Medikamente für chronisch Kranke.

Kein Paracetamol mehr in der Apotheke? Macht nichts, dann nimmt man eben Ibuprofen gegen Fieber und Schmerzen bei der nächsten Infektion mit dem Coronavirus. Und wenn es Ibuprofen auch nicht mehr gibt? Die beiden Medikamente sind die im ambulanten Bereich am häufigsten eingesetzten und haben neben dem Wirkspektrum noch eine andere Gemeinsamkeit: Sie waren zuletzt und werden mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft nicht ausreichend in hiesigen Apotheken verfügbar sein.

Das trifft aber nicht nur auf die oben genannten Präparate zu, die üblicherweise bei eher harmlosen Erkrankungen angewendet werden. Das Phänomen der mehr oder weniger lange andauernden Lieferschwierigkeiten betraf und betrifft inzwischen viele verschiedene Medikamente. So zum Beispiel Mittel gegen rheumatische Erkrankungen, Antibiotika, Medikamente zur Chemotherapie bei Krebs sowie solche zur Aufrechterhaltung von Narkosen und neuerdings auch ein bewährtes Mittel gegen Diabetes. Zu Beginn der Covid-19­-Pandemie wurde Propofol knapp. Dieses Medikament wird weltweit zur Narkoseeinleitung und -aufrechterhaltung verwendet. Auch an Covid-19 erkrankte, beatmete Patienten benötigten es teilweise über Wochen.

Wer nicht auf diese Medikamente angewiesen ist, bekommt von den Engpässen bislang wenig mit. Ausnahmen bestätigen die Regel: Anfang des Jahres erregte ein drohender Lieferstopp für Tamoxifen, ein Mittel gegen Brustkrebs, etwas mediale Aufmerksamkeit. Tamoxifen muss über Jahre täglich eingenommen werden, um das Risiko für die Entwicklung von Metastasen zu reduzieren. Im Fall von Tamoxifen verkündete die Bundesregierung eine Mangellage, was zahlreiche Erleichterungen für Apotheken und den Großhandel ermöglichte. Diese können dann größere Mengen importieren, Packungsgrößen können verkleinert und Kontrollen ausgesetzt oder weniger streng durchgeführt werden. Dennoch lösen die ergriffenen Maßnahmen das Problem der immer wieder auftretenden Engpässe nicht, sondern schwächen deren Auswirkung allenfalls ab.

Seit 2013 sind pharmazeutische Unternehmen verpflichtet, drohende Engpässe dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden. Dieses veröffentlicht und ­aktualisiert ständig eine Liste mit den nicht oder eingeschränkt lieferbaren Medikamenten. Derzeit sind dort fast 280 Medikamente aufgeführt. Zum Vergleich: 2015 waren es in einer Stichprobe 30. Noch vor zehn Jahren waren Versorgungsschwierigkeiten mit Medikamenten in wohlhabenden Staaten wie der BRD eine absolute Seltenheit.

Wenn ein Antibiotikum nicht zur Verfügung steht, muss ein anderes genommen werden, das im Zweifelsfall mehr Nebenwirkungen hat als das eigentlich verschriebene.

Bisher konnten die immer häufiger auftretenden Schwierigkeiten behoben werden, allerdings um den Preis der permanenten Improvisation. Patientinnen, Apotheken, Ärzte und Pflegende müssen sich ständig an Lieferschwierigkeiten anpassen und Notlösungen finden, was Zeit kostet und bei Patienten für Unsicherheit und Angst sorgt. Kann die Therapie auch ein paar Tage später beginnen? Oder ist eine sofortige Behandlung notwendig, die dann mit einem nicht so gut wirkenden oder einem weniger gut verträglichen Medikament beginnen muss? Wenn ein Antibiotikum nicht zur Verfügung steht, muss ein anderes genommen werden, das im Zweifelsfall mehr Nebenwirkungen hat als das eigentlich verschriebene.

Durch diese ständige Improvisation spitzt sich die desolate Situation der Gesundheitsversorgung weiter zu, denn knappe Arbeitskraft muss in die Suche nach knappen Medikamenten oder nach Notlösungen investiert werden. Fehlende staatliche Kontrollen verschärfen das Problem zusätzlich. So wurden 2018 in dem verbreiteten Medikament Valsartan, ­einem Mittel gegen Bluthochdruck, krebserregende Nitrosamine festgestellt. ­Ursache für die Verunreinigung waren Produktions­fehler in einer Fabrik in China, die einen Großteil des Weltmarkts belieferte.
Übertrieben wäre es jedoch, von einer allgemeinen Verknappung an Medikamenten zu sprechen. Denn bei weitem nicht alle sind betroffen.

Dennoch lässt sich eine Voraussage treffen: Je teurer ein Medikament ist, umso wahrscheinlicher ist seine uneingeschränkte Verfügbarkeit. Im Gegensatz dazu überwiegen auf der Problemliste des BfArM günstige und bewährte Mittel. Jedoch könnte zukünftig auch diese Regel nicht mehr gelten: Im April verkündete das deutsche Phar­maunternehmen Boehringer-Ingelheim, dass die Produktionskapazitäten für ein unerlässliches Medikament zur Behandlung von Schlaganfällen und Herzinfarkten nicht ausreichten. Mitte des kommenden Jahres werde es sogar zu einer vollständigen Unterbrechung in der Produktion kommen – mit unbekannter Dauer. Ersatz ist nicht vorhanden, denn das betroffene Medikament namens Metalyse wird weltweit nur in einem deutschen Werk produziert. Die Fachzeitschrift Arznei-Telegramm rechnete aus, dass, wenn dieser Fall eintritt, allein in der BRD jährlich etwa 35 000 Menschen mit Schlaganfall und um die 8 000 mit Herzinfarkt oder Lungenembolie keine angemessene Therapie bekommen könnten.

Die Ursachen für die fortschreitende Misere sind vielfältig, lassen sich aber auf eine Tendenz zurückführen: den Zwang zur Senkung der Produktionskosten. Dieser führt zur Konzentration der Produktion und zu ihrer Verlagerung an Standorte mit niedrigen sozialen und ökologischen Auflagen und Löhnen, wie sie zum Beispiel in Staaten wie Indien oder China zu finden sind.

Läuft das Patent auf ein bestimmtes Medikament ab, sinkt der Preis, pharmazeutische Firmen unterbieten sich häufig gegenseitig, bis am Ende entweder nur noch sehr wenige Hersteller oder im schlimmsten Fall gar keiner mehr übrigbleibt, für den sich die Produktion noch lohnt. Die Folge ist, dass in der BRD, aber auch in Frankreich keine Fabrik mehr zur Herstellung bestimmter Antibiotika und Schmerzmittel wie Paracetamol existiert.

Durch die Konzentration der Produktion wichtiger und weltweit verwendeter Medikamente auf sehr wenige Fa­briken führt schon der Ausfall einer Anlage zu einem weltweiten Problem. So wurde Tamoxifen noch 1996 von 20 Firmen hergestellt – derzeit sind es noch sieben, von denen nur drei relevante Mengen produzieren.

Im Gegensatz dazu lohnt sich die Produktion teurer unter Patentschutz stehender Medikamente, denn hier ist die Gewinnspanne höher. Auf diese konzentrieren sich die großen Pharmafirmen bei ihren Investitionen, Lieferschwierigkeiten kommen kaum vor.

Dass die Forderungen von Kritikern dieser Entwicklung beizeiten zu einer nachhaltigen Verbesserung führen werden, ist unwahrscheinlich. So wird unter anderem eine Rückverlagerung der Produktion in die BRD oder in die EU gefordert. Vor allem aber müsste der Widerstand der Pharmaindustrie überwunden werden: Sie ist nicht an der Produktion von Massenware mit niedrigen Gewinnmargen interessiert, sondern an der Herstellung sehr teurer Produkte, die aber nur von relativ wenigen benötigt werden und bezahlt werden können.

Die Bundesregierungen und Gesundheitspolitiker der vergangenen Jahrzehnte haben zuverlässig ihren Beitrag geleistet, um die Situation nach und nach untragbar werden zu lassen. Der absurde Wunsch, durch Anwendung von Marktregeln Kosten in der Gesundheitsversorgung zu sparen, begünstigt eine Entwicklung, die eine Überversorgung mit sehr teuren und zugleich eine Unterversorgung mit günstigen, aber essentiellen Medikamenten zur Folge hat. Auf diese Weise hat sich die Gesundheitspolitik in eine von big pharma besonders abhängige und erpressbare Position gebracht. Unter dieser Abhängigkeit werden zukünftig auch Einwohner reicher Staaten leiden.