Die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung bringt wenig Verbesserungen

Die Abwehr wird ausgelagert

Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, es geduldeten Flüchtlingen zu erleichtern, ein dauerhaftes Aufenthalts­recht zu erhalten. Gleichzeitig stimmt sie drastischen Einschränkungen des Rechts zu, an den EU-Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen.

Fast 30 Jahre lebte der Albaner Hocin Ogaci in Köln. Am 23. Juni sollte diese Zeit enden, wenn es nach der Ausländerbehörde in Köln gegangen wäre. Die hatte Ogaci an jenem Morgen zu einem Termin bestellt – und von der Polizei festnehmen lassen. »Zeitnah« sollte der 59jährige abgeschoben werden. Das Verwaltungsgericht verhinderte das in letzter Minute.

Hunderte solcher Abschiebefälle hat allein das Projekt »Abschiebungsreporting NRW« des Komitees für Grundrechte und Demokratie zusammengetragen. Eigentlich sollte es solche Fälle nicht mehr geben. Denn im Koalitionsvertrag derzeitigen Bundesregierung vom vergangenen November ist festgelegt, dass Menschen, die Anfang 2022 seit mindestens fünf Jahren in Deutschland lebten und straffrei waren, ein »Chancen-Aufenthaltsrecht« auf Probe erhalten sollen. Innerhalb von einem Jahr müssten sie die Voraussetzungen für ein weiteres Bleiberecht nachweisen: Lebensunterhalt verdienen, Deutschkenntnisse belegen, ihre Identität vor den deutschen Behörden klären. Bei den übrigen Bleiberechtsregelungen sind Verkürzungen der Voraufenthaltszeiten vorgesehen, also der Zeitdauer, die sich ein Migrant geduldeter- beziehungsweise gestattetermaßen oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bereits aufgehalten hat. Doch die entsprechenden Gesetze lassen auf sich warten.

Der Bedarf der deutschen Wirtschaft an Arbeitskräften steht auch bei der Migrationspolitik der Ampelkoalition im Vordergrund.

Sieben Bundesländer haben deshalb »Vorgriffsregelungen« getroffen. Sie schützen schon jetzt jene vor Abschiebung, die absehbar von den Bleiberechtsplänen der Ampelkoalition profitieren werden. Die anderen Bundes­länder schieben munter weiter ab. »Für die Betroffenen eine Katastrophe und rechtsstaatlich unerträglich«, heißt es bei der Bundestagsfraktion der Linkspartei. Die hatte schon im Mai auf das Problem hingewiesen – und einen Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt, um die ausstehenden Reformen noch vor der Sommerpause des Parlaments beschließen zu lassen. Neben den Bleiberechtsregelungen sollte auch die im Koalitionsvertrag versprochene Absenkung der Sprachanforderungen vor dem Ehegattennachzug schneller Realität werden. Die Bundesregierung machte sich die beiden Gesetzentwürfe der Linkspartei nicht zu eigen, der Bundestag verwies sie zur Beratung in den Innenausschuss, bis zur Sommerpause geschah nichts weiter.

Drei Jahre lang war Deutschlands Migrationspolitik von jemandem maßgeblich mitbestimmt worden, der Einwanderung als die »Mutter aller Probleme« bezeichnete und sich gegen Einwanderung in die Sozialsysteme »bis zur letzten Patrone« verteidigen wollte. Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien machte – bei allen Einschränkungen – vielen Hoffnung, dass die Politik der Ära Horst Seehofer (CSU) beendet werden würde. Doch die Bilanz der sieben Monate, die es her sind, dass dieser das Amt des Innenministers abgegeben hat, ist durchwachsen.

Am 6. Juli beschloss das Kabinett das sogenannte »Chancen-Aufenthaltsrecht«. Bis der Bundestag zustimmt und es in Kraft tritt, wird es noch dauern. »Für rund 135 000 Menschen ist das die Brücke in ein besseres Leben in Deutschland«, sagte die Integrationsbeauftragte der Regierung, Reem Ala­bali-Radovan (SPD), dazu. Der Gesetzentwurf von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zielt auf Ausländer ab, die sich seit Jahren von Duldung zu Duldung hangeln. Doch wer mehrfach falsche Angaben gemacht oder über seine Identität getäuscht hat, um seine Abschiebung zu verhindern, bleibt ausgeschlossen. Vor allem der Tatbestand der »Identitätstäuschung« gibt den Ausländerbehörden Ermessensspielraum. Auch Straftäter sind von der ­Regelung ausgenommen.

Für diese Gruppe gibt es eine Verlängerung der Abschiebehaft von drei auf sechs Monate. Das soll den Behörden mehr Zeit verschaffen, eine Abschiebung vorzubereiten. Die Maßnahme ist Teil einer »Rückführungsoffensive« der Bundesregierung, um Abschiebungen »konsequenter als bisher« durchzusetzen, wie Faeser erklärte.

Immerhin: An Sprach- und Integrationskursen sollen künftig alle Asylbewerber teilnehmen dürfen, unabhängig davon, ob ihr Antrag aussichtsreich ist oder nicht. Und Geduldete sollen – unabhängig von der Fünfjahresfrist zum Stichtag 1. Januar 2022 – schneller eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.

In Sachen Arbeitsmigration hat die Regierungskoalition ebenfalls große Pläne: Noch 2022 wollen Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Faeser dafür sorgen, dass besonders qualifizierte Fachkräfte – deren Qualifikation wird nach einem Punktesystem bewertet – nach Deutschland einreisen dürfen, selbst wenn sie noch keinen festen Arbeitsplatz hierzulande haben. Geplant, aber noch nicht beschlossen, ist auch die Entfristung der sogenannten Westbalkan-Regelung. Die bisher bis Ende 2023 geltende Sonderregelung ermöglicht Hilfskräften (nur Leiharbeiter sind hiervon ausgenommen) aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien einen erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Die bisher auf akademische Fachkräfte beschränkte »Blue Card« will die Bundesregierung nun auf nichtakademische Berufe ausweiten. Klar ist: Der Bedarf der deutschen Wirtschaft an Arbeitskräften steht auch bei der Migrationspolitik der Ampelkoalition im Vordergrund.

Doch auch wenn das »Chancen-Aufenthaltsrecht« mit seinen Ausnahmen vielen stichtagsabhängigen Bleiberechtsregelungen der Vergangenheit ähnelt, kann es für viele Menschen der Weg aus dem nahezu rechtlosen Status der Duldung sein.

Die Bilanz der Migrationspolitik der jetzigen Bundesregierung fällt indes deutlich schlechter aus, wenn es um die geht, die Deutschland noch nicht erreicht haben. Seehofer hatte schon 2019 eine neue Sorte von Lagern an den EU-Außengrenzen vorgeschlagen. In denen sollte in einer Vorprüfung geklärt werden, ob überhaupt Zugang zu einem regulären Asylverfahren gewährt wird. Bis dahin sollten die Insassen dieser Lager als offiziell «nicht eingereist« gelten. Nur wer aus Ländern stammt, aus denen kommend mindestens jeder fünfte Migrant im EU-Durchschnitt eine positive Asylentscheidungen erhält, und nicht über einen »sicheren Drittstaat« einreist, sollte im Zuge eines ­regulären Asylverfahrens in die EU einreisen dürfen.

Nun drohen entsprechende Pläne von der EU umgesetzt zu werden, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) warnte kürzlich vor »De-facto-Haftlagern an den Grenzen Europas«. Am 22. Juni billigten die Innenminister im EU-Rat mit der Stimme Deutschlands unter anderem die sogenannte Screening-Verordnung. Die schafft die Grundlage für ein verbindliches Registrierungsverfahren an den Außengrenzen, inklusive »Prüfung der Schutzbedürftigkeit« in nur fünf bis zehn Tagen; die Personen gelten während dieses Verfahrens als »nicht eingereist«, auch wenn sie die Grenze eines EU-Landes bereits überschritten ha­ben. Eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Clara Bünger, kritisiert das scharf. »Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, das ›Leid an den Außengrenzen‹ und ›illegale Zurückweisungen‹ zu beenden«, sagt Bünger der Jungle World. Die Zustimmung zum Entwurf der Screening-Verordnung sei «jedoch genau das Gegenteil«.