Das Computerspiel »Elden Ring« und die von ihm transportierte Ideologie

Zerrbild der Realität

Das Videospiel »Elden Ring« ist ein Massenerfolg. Es bietet nicht nur eine ausgefeilte Simulation eines in sich schlüssigen Universums, sondern auch eine offene Spielwelt, die bewusst gebrochen und ambivalent ist.

Der Sehnsuchtsort der spätkapitalistischen Gesellschaft ist eine Zwischenwelt. Vielleicht war es einmal das Paradies, die Harmonie, die vermeintlich nach dem Sündenfall der Aufklärung verlorenging, oder der Himmel, der die Erlösung von allem Leid verspricht. Spätestens aber seit »die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils« erstrahlt ist, wie Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« schreiben, kann man an keine heile Welt mehr glauben, nicht einmal an eine jenseitige. Menschen zieht es daher zu allem hin, was diesen Widerspruch erfahrbar macht. Ambivalenz, Gebrochenheit und Abgründigkeit findet man daher in fast allen Heldengeschichten von »Batman« bis »Star Wars«.

Aus diesem Grund ist das Unheimliche, wie Mark Fisher schrieb, ein zentrales Motiv der Spätmoderne. Man findet es als Motiv überall in der Populärkultur, inkarniert als Aliens, Zombies oder Geister. Oder es wird das Gefühl transportiert, dass nichts ist, wie es zu sein scheint (wie in der Netflix-Serie »Stranger Things«), was schließlich dazu führt, die Wirklichkeit als Simulation zu entlarven, wie in den Filmen »Matrix« oder »Inception«.

In »Elden Ring« besteht das Überleben und Vorankommen in harter Arbeit wie Jagen, Sammeln und dem Herstellen von Gegenständen, aber vor allem dem Durchstehen von immer wieder derselben Situation, bis man endlich nicht mehr daran scheitert und sich der nächsten stellen kann.

Unheimliches ist Ausdruck eines Unbehagens in der modernen Gesellschaft, des Umstands also, dass menschliche Beziehungen als ding­liche erscheinen. Dass diese Verdinglichung der Welt bis zur Leblosigkeit gesteigert werden kann, beschrieb Adorno einmal mit der Sentenz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Oft wurde das mit der moralischen Bankrotterklärung verwechselt: Im Kapitalismus könne man wohl gar nichts mehr richtig machen. Gemeint war aber der Umstand, dass die Wirklichkeit bereits zu jener Zwischenwelt geworden ist, in der »das Leben nicht mehr lebt« und nur noch als Ideologie existiert.

Es hat etwas Verlockendes, beinahe Tröstliches, sich dieser Ideologie auszusetzen. Anders ließe sich auch die Anziehungskraft jener Phantasiewelt nur schwer erklären, die seit Ende Februar über 13 Millionen Spielerinnen und Spieler eingesogen hat: die sogenannten Zwischenlande des Action-Rollenspiels »Elden Ring«. Es ist eine unwirkliche und riesige Spielwelt, bevölkert von allerhand Mischwesen und Halbtoten. Eine Welt, die zwischen einer zerbrochenen göttlichen Ordnung, den Auswirkungen eines Kriegs und einer konservativen Restauration steht. ­Alles darin ist kaputt, zerstört, feindlich.

Die Faszinationskraft dieser Welt lässt sich nicht nur aus dem Spiel selbst heraus begreifen. Zweifellos stellt »Elden Ring« eine gut komponierte Mischung aus altbekannten und erfolgreichen Videospielelementen dar. Es ist die Fortführung einer Spielereihe, die sich bis zum 1994 veröffentlichten »King’s Field« zurückverfolgen lässt. Das japanische Entwicklerstudio From Software prägte seitdem die Nischenserie der sogenannten Soulsborne-Spiele, die aus »Demon’s Souls« (2009), drei Teilen »Dark Souls« (2011–2016) und »Blood­borne« (2015) besteht. Diese für ihren frustrierenden Schwierigkeitsgrad berüchtigte Reihe taugt eigentlich wenig zum Massenerfolg. Und doch macht »Elden Ring« daraus eines der erfolgreichsten Rollenspiele überhaupt: Es erweitert die masochistische Spielerfahrung des ständigen Unterlegenseins um eine offene Spielwelt und schier unendliche Möglichkeiten der Entdeckungsreise und Kampfherausforderungen.

Als namen- und charakterlose Tarnished, also Befleckte, tritt die Spielerin oder der Spieler in die Zwischenlande ein. In diesen ist die Goldene Ordnung der Fürstin Marika und ihrer Naturreligion des Erdenbaums zerbrochen und es herrscht eine schwer zu durchschauende Fehde ihrer halbgöttlichen Nachkommen um den Rang des Eldenfürsten. Alle Fraktionen sind dabei entrückte und entstellte Schatten ihrer selbst – vom Schlossherren, der sich die Gliedmaßen seiner Feinde transplantiert, bis zur Magierkönigin, die nur noch auf ihre Wiedergeburt hinfiebert. Aufgabe des Spielers ist es, selbst zum Eldenfürsten zu werden und auf dem Weg dorthin unzählige Kämpfe – und vor allem Niederlagen – zu bestehen, sich in einer riesigen Welt gegen riesige Feinde durchzusetzen, stärker zu werden und nebenbei kryptische Hinweise zusammenzutragen, was eigentlich mit dieser Welt passiert ist.

George R. R. Martin, der Autor der Romanvorlage zur HBO-Erfolgsserie »Game of Thrones«, entwickelte die Geschichte und die Charaktere dieser Welt mit. Das Studio setzte sie wie gewohnt düster und grauenhaft in Szene. Die Zwischenlande sind daher zusammengesetzt aus wohlbekannten Ideologemen eines »Herr der Ringe«- oder eben »Game of Thrones«-Feudalismus, Religion und Aberglaube, mediterranen und nordischen Mythen. Alles ist voll mit Trollen, giftigen Pflanzen, Drachen, Basilisken, Wölfen und Skelettrittern.

Es geht zwar um eine Heldenreise und Gut gegen Böse, aber nichts von all dem trägt so weit, dass es die Handlung zusammenhalten könnte. Fast ist »Elden Ring« auf diese Weise wieder unideologisch, indem es sich aller Konsistenz verwehrt und das Ganze so beschädigt lässt wie jedes seiner Details. Die prachtvollen Landschaften entpuppen sich bei Betreten sofort als feindlichstes Terrain und die Goldene Ordnung als nicht weniger korrupt und zerrüttet als die zahlreichen Sekten, die an ihrer Demontage arbeiten.

Aber so irritierend und abstoßend diese Welt immer wieder ist, als Ganze erzeugt sie offenkundig einen enormen Sog für die Spielenden. Will man diesen begreifen, stößt man zuallererst darauf, wie wenig (gesellschafts-)kritische Auseinandersetzung es eigentlich mit dem Medium und den Inhalten von Videospielen gibt. Laut Erhebungen aus dem Jahr 2021 spielt in Deutschland mindestens die Hälfte der Bevölkerung Videospiele, im Bereich der 16- bis 29jährigen sind es sogar 81 Prozent. Die enorme gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung ist offenkundig. Medientheorien und Mikrosoziologien beschäftigen sich beispielsweise mit der misogynen und menschverachtenden Incel-Szene, die sich vielfach mit Gaming-Kreisen überschneidet. Aber die Ideologie und die Gründe für die Massenfaszination der virtuellen Welten bleiben bisher erstaunlich unterbelichtet.

Schon ein kurzer Blick auf vergleichbare Erfolgstitel wie die aus der Reihe »Assassin’s Creed«, von der es sogar eine Netflix-Serienadaption geben wird, zeigt erschreckend Regres­sives: »Assassin’s Creed: Valhalla«, der neueste Titel der Serie, suhlt sich geradezu in Stammeskult, Blutrache und allerhand faschistoiden Phanta­sien, Inhalten, die millionenfach gespielt und in »Let’s Play«-Videos auf Plattformen wie Youtube vorgeführt, kommentiert und verbreitet werden. Dagegen sticht »Elden Ring« beinahe heraus, weil hier die Erzählungen von Überlebenskampf, religiösem Wahn und Mythenglauben immer gebrochen werden.

Das allein macht aber noch keinen subversiven oder gar emanzipatorischen Gehalt aus. Die ideologische Dimension des Massenerfolgs dürfte auch hier von einem klassischen Rezept der Kulturindustrie herrühren. Deren Geniestreich ist gerade nicht, wie schlechte Ideologiekritik meint, dass sie die perfekte Lüge, Simulation und absolute Verblendung sei. Sie ist, sagte Adorno einst, der Betrug, den die Menschen durchschauen können: eine gebannte Dystopie, eine Wahrheit, die ohne Kon­sequenzen bleiben kann.

»Elden Rings« kombiniert das eskapistische Moment von Videospielen im Allgemeinen mit der spezifischen Inszenierung konsequentester Ambivalenz. Videospiele sind Spiele, also etwas, das mit strengen Grenzen und Abläufen der Realität entgegensteht. Ihre technische Perfektionierung hat aus ihnen regelrechte Parallelwelten werden lassen, rabbit holes, aus denen manche Spielende am liebsten gar nicht mehr auf­tauchen möchten. Zugleich – und keineswegs zufällig – ist diese Weltflucht spielerisch mit stumpfester Monotonie und Gleichförmigkeit verbunden. Ob Tausende Level der immergleichen Wiederholung des Handyspiels, das sogenannte Farmen von Erfahrungspunkten oder Gold oder gleich die Simulation von Betriebsabläufen – die erfolgreichsten Spiele lassen die Spielenden eigentlich arbeiten und entsprechend nach jeder Euphorisierung wie ausgebrannt zurück.

Auch in »Elden Ring« besteht das Überleben und Vorankommen in harter Arbeit wie Jagen, Sammeln, dem Herstellen von Gegenständen, aber vor allem dem Durchstehen von immer wieder derselben Situation, bis man endlich nicht mehr daran scheitert und sich der nächsten stellen kann. Diese ständige Wieder­holung und Äquivalenz im Gewand der Offenheit (sowohl der Spielwelt wie auch ihrer Deutung) macht große Heldenerzählungen und geschlossene Weltbilder überflüssig. Statt des glorreichen Siegs des Guten über das Böse zergeht alles in der Ambivalenz, bleibt fragmentarisch und desintegriert. »Elden Ring« baut aus diesem Prinzip eine ganze Welt und ist genau darin der Ausdruck der allzu realen und wohlbekannten Dystopie der Gegenwart. Vielleicht hätte das sogar Potential zum Subversiven, aber nur in einer Gesellschaft, der dieser Zusammenhang bewusst wäre.