Im sogenannten Bataclan-Prozess in Frankreich sind die Urteile gesprochen worden

Lebenslänglich wegen Terrors

Fast sieben Jahre nach der jihadistischen Terrornacht in Paris sind im sogenannten Bataclan-Prozess die Urteile gesprochen worden. Der einzige noch lebende Hauptangeklagte, Salah Abdeslam, erhielt lebenslange Haft.

»Wie soll man sich an Sie erinnern?« fragte einer der zahlreichen Anwälte der Nebenkläger den Hauptangeklagten. Anders ausgedrückt: Wie möchte er in die Geschichte eingehen – vorläufig vor allem in die Justizgeschichte? »Ich möchte nicht, dass man sich an mich erinnert. Ich möchte für immer vergessen werden. Ich habe mir nicht ausgesucht, der zu sein, zu dem ich heute geworden bin.«

Der das sagte, wird Zeit haben, in Vergessen zu geraten. Er ist im sogenannten Bataclan-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Am Mittwoch voriger Woche fiel nach 148 Verhandlungstagen, über 400 Einvernehmungen von Zeugen und Opfern sowie zweieinhalb Beratungstagen des Gerichts das Urteil in dem Mammutprozess zu den Mordanschlägen vom 13. November 2015 in Paris und in der Nachbarstadt Saint-Denis. 130 Menschen waren ermordet worden, mehr als 400 verletzt, davon 99 schwer; drei Attentäter wurden im Konzertsaal Le Bataclan von der Polizei erschossen, vier weitere sprengten sich selbst in die Luft.

Bei den jihadistischen Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris und in der Nachbarstadt Saint-Denis wurden 130 Menschen ermordet, mehr als 400 verletzt, davon 99 schwer.

Hauptangeklagter war der 32jährige in Belgien aufgewachsene französisch-marokkanische Staatsbürger Salah Abdeslam. Er ist der einzige Überlebende des Mordkommandos, das an jenem Freitagabend im November vor bald sieben Jahren ausschwärmte. Abdeslam erhielt die höchste juristisch mögliche Strafe, la perpétuité incompressible, ­lebenslänglich ohne die Möglichkeit einer Haftentlassung.

Bislang war diese Strafe, die im französischen reformierten Strafgesetzbuch von 1994 die 13 Jahre zuvor abgeschaffte Todesstrafe ersetzt, insgesamt nur viermal verhängt worden. Sonstige Verurteilungen zu lebenslanger Haft (perpé­tuité) sind im Allgemeinen mit einer Periode der Mindesthaft – beispielsweise 20, 22 oder 25 Jahre – verbunden, die im Urteil festgeschrieben wird.

Dieses »echte« Lebenslänglich (perpétuité réelle), wie es auch bezeichnet wird, war im Strafgesetzbuch von 1994 für nur wenige ausgewählte Straftatbestände reserviert: Morde in Verbindung mit Folter, Sexualstraftaten oder der schwersten Misshandlung Minderjähriger. Terroristische Verbrechen zählten zunächst nicht dazu. Im Jahr 2011 entschied die damalige konservative Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy, die Liste dieser besonderen Verbrechen um Polizisten- und Richtermorde sowie Mordversuche an solchen Amtsträgern zu erweitern – wegen eines bei einer Schießerei in einem Casino in Uriage im August 2010 verletzten Polizeibeamten und im Namen einer Staatskonzeption, in der ein Angriff auf Autoritäten eines der schwerste Verbrechen überhaupt darstellt.

Terrortaten gegen Zivilisten zählten hingegen noch immer nicht dazu, diese wurden erst nach den Attentaten von Paris und Saint-Denis im Jahr 2016 in die Liste aufgenommen; im Strafrecht besteht jedoch ein Rückwirkungsverbot. Deswegen wurde Abdeslam nicht für die weit über 100 toten Zivilisten zu »echtem« Lebenslänglich verurteilt – sondern für die Schüsse auf Polizisten, die im Bataclan eingriffen und die dort von den verbliebenen Attentätern festgehaltenen Geiseln befreiten.

Deshalb verfügte Abdeslams Verteidigung – bestehend aus der jungen Anwältin Olivia Ronen und ihrem Kollegen Martin Vettes – über ernstzunehmende Argumente gegen die Strafforderung der Staatsanwaltschaft. Sie berief sich darauf, dass Abdeslam im Bataclan, wo der Schusswechsel mit den Polizisten stattfand, nicht anwesend war: Er hatte die drei Attentäter, die sich im Eingangsbereich des Fußballstadions in die Luft sprengten, mit dem Auto ab­gesetzt. Später sollte er in einer Bar im 18. Pariser Bezirk seinen eigenen Sprengstoffgürtel betätigen.

Abdeslam behauptet, aus eigener Entscheidung darauf verzichtet zu haben, was die Verteidigung denn auch als – notwendig strafmildernden – »Rücktritt von der Tat« einbrachte. Den Ermittlungsbehörden zufolge wies Abdeslams Sprengstoffgürtel einen technischen Defekt auf. Was die Abwesenheit Abdeslams im Konzertsaal betrifft, so hielt das Gericht fest, alle Schauplätze der Attentate vom November 2015 stellten einen »einheitlichen Tatort« dar. Die Morde, Schüsse und Explosionen hätten zu einem einheitlichen Tatplan ­gehört.

Im Laufe der Verhandlungen hatte Salah Abdeslam seine Prozessstrategie vollständig geändert. Stellte er sich zum Prozessauftakt im vorigen September noch selbst als »Soldat des Islamischen Staats« (IS) dar und zeigte sich dabei von keinen Zweifeln geplagt, so wandelte sich dieses Bild im Laufe der Monate, bis zu der zitierten Einlassung vom 15. April, der zufolge er lieber vergessen werden wolle. Mutmaßlich ­bekam er bei der Aussicht auf mehrere Jahrzehnte Haft dann doch kalte Füße.

Die perpétuité incompressible wurde noch gegen fünf weitere Angeklagte in Abwesenheit verhängt, die jedoch wahrscheinlich tot sind, ohne dass es definitiv erwiesen wäre. Es handelt sich um Kader des IS, die sich zum Zeitpunkt der Attentate in Syrien aufhielten und wahrscheinlich bei Bombenangriffen der internationalen Koalition gegen die Terrormiliz zu Tode kamen. Sie waren Hintermänner der Attentatsplanung und Auftraggeber, unter ihnen die französischen Brüder Jean-Michel und Fabien Clain, langjährige ­salafistisch-jihadistische Aktivisten.

Hingegen blieben die Richter bei zehn der 14 anwesenden (beziehungsweise insgesamt 19) Angeklagten unterhalb der Strafforderung der Staatsanwaltschaft. Als Einziger kam der belgisch-marokkanische Staatsbürger Farid Kharkach auf freien Fuß. Der 39jährige ­hatte mutmaßlich als gewöhnlicher Straftäter ohne Wissen um die Tatplanung den späteren Attentäter gefälschte Ausweise verkauft. Einzig seine Tatbeteiligung stufte Gericht nicht als terroristisch motiviert fest. Er kam mit ­einem Gesamtstrafmaß von zwei Jahren davon, die er bereits abgesessen hatte. Alle übrigen stufte das Gericht als terroristisch motivierte Mittäter oder Helfer ein, das Strafmaß variiert je nach Schwere ihres Beitrags zwischen vier und 30 Jahren.

Die 14 noch lebenden Verurteilten haben zehn Tage Zeit, um Berufung einzulegen.