Die Umma kommt in Tunesiens neue Verfassung

Die große Farce

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed hat seinen Verfassungs­entwurf veröffentlichen lassen. Die Kritik daran wird immer lauter.
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Die vom tunesischen Präsidenten geplante »Berichtigung des Revolutionsprozesses« ist zur Farce geraten. Am 20. Juni hatte sich Kaïs Saïed einen zu diesem Zweck angefertigten Verfassungsentwurf von seiner handverlesenen konsultativen Kommission unter Vorsitz des Verfassungsrechtlers Sadok Belaïd vorlegen lassen. Am 30. Juni ließ Saïed einen Entwurf im tunesischen Amtsblatt veröffentlichen, über den am 25. Juli in einem Referendum abgestimmt werden soll.

Prompt distanzierte sich Belaïd von dem präsidialen Entwurf, der nichts mit dem Ursprungstext zu tun habe. Das Projekt des Präsidenten sei »gefährlich«, beinhalte das Risiko, dass sich eine »end­lose Diktatur zugunsten des gegenwärtigen Präsidenten« etabliere, und führe möglicherweise zur »Rekonstruktion der Macht der Reli­giösen« und somit zu einer »Rückkehr zu den finsteren Zeitaltern der islamischen Zivilisation«, so Belaïd im Interview mit Le Monde.

Bereits die Präambel gibt den Ton vor. »Das tiefe historische Verantwortungsbewusstsein erforderte eine Neupositionierung des Revolutionsprozesses und sogar des Geschichtsverlaufs, und dies geschah am 25. Juli 2021« – dem Tag, an dem Präsident Saïed das Parlament suspendierte und die Regierung absetzte. Der Entwurf wird bevölkert von »Märtyrern, deren reines Blut sich mit dieser guten Erde mischte«, und spricht von der »Teilung der legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen« – Funktionen wohlgemerkt, die nur aus einem Zentrum entstammen können, der Allmacht des Präsidenten, nicht Gewalten im Sinne der Gewaltenteilung Montesquieus, die eine Gegenmacht zum Präsidenten und dessen Kontrolle gewährleisten könnten.

Artikel 5 dekretiert Tunesien als »Teil der islamischen Umma«; der Staat muss über »die Realisierung der Gebote des Islam wachen«; gemäß Artikel 44 soll der Staat die jugendlichen Lernenden in »­ihrer arabisch-islamischen Identität« verwurzeln. Artikel 55 führt eine »öffentliche Moralität« ein, die das Maß an Rechten und Freiheiten bestimmt. Einen Vorgeschmack davon hatte man kürzlich, als der Präsident per Dekret 57 Richter ihres Amtes enthob, unter anderem drei Frauen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten. Seither befinden sich viele tunesische Richter im Streik, weswegen Artikel 41, in diesem Sinne hochaktuell, festlegt, dass die Richter und Staatsanwälte kein Streikrecht haben.

Kurz, der Verfassungsentwurf Kaïs Saïeds ist kein Projekt zur »Berichtigung des Revolutionsprozesses«, sondern ein Projekt wirklicher Konterrevolution, das kongenial Elemente faschistischer, nazistischer und islamistischer Provenienz vereint: Führerprinzip, Blut und Boden, Umma. Und er verpackt sie in eine pseudorevolutio­näre Geschichtsfälschung, die Kaïs Saïed als Mann göttlicher Vorsehung und alleinige Verkörperung des Volkswillens präsentiert.

An Saïeds Entschlossenheit, den konterrevolutionären Prozess zu beschleunigen und voraussichtlich mit maximaler Geschwindigkeit gegen die Wand zu fahren, besteht kein Zweifel. Artikel 139 seines Verfassungsentwurfs dekretiert dem tunesischen Online-Portal Businessnews zufolge: »Diese Verfassung tritt am Tag der endgültigen Bekanntgabe der Ergebnisse des Referendums durch die Un­abhängige Oberste Wahlbehörde in Kraft.« Demnach unabhängig vom Ausmaß der Beteiligung am Referendum und vielleicht sogar von dessen Ergebnis.

Die Aufregung ist groß in Tunesien, Aufrufe zum Boykott des Referendums oder zur Ablehnung des Verfassungsentwurfs sind Legion. In Hinblick auf die kommenden rund drei Wochen bis zum geplanten Referendum, den drohenden Staatsbankrott und das Risiko sozialer Konflikte hieß es in einem Editorial von Le Monde: »Sturmwarnung in Tunesien.«