Antisemitisches Denken ist in allen Gesellschaften verbreitet

Mehr als Meinungen

Die Dämonisierung Israels und die Relativierung des Antisemitismus sind Teil eines hippen Distinktionsgebarens und der vermeintlichen »wokeness« der Kunst- und Kulturszene. Kritische Stimmen sind selten zu hören. Verena Dengler, Leon Kahane und Michaela Meise wenden sich gegen den Einfluss der BDS-Kampagne.

2020 unterschrieb eine große Anzahl an Kuratorinnen und Künstlerinnen den Solidaritätsbrief »Wir können nur ändern, was wir konfrontieren«. Darin wurde die Bundestagsentscheidung von 2019 kritisiert, Veranstaltungen nicht mehr mit Bundesmitteln zu finanzieren, die mit BDS in Verbindung stehen. Mich hat damals entsetzt, dass diese vielen klugen Leute sich im internationalen Rahmen nicht dafür einsetzen, das Existenzrecht Israels zu verteidigen. Denn BDS arbeitet mit Wirtschafts-, Kultur- und Wissenschaftsboykotten, deren logisches Ziel der Kollaps des israelischen Staats ist.

Ich wunderte mich, dass die deutschen Unterzeichner, die in einem Land leben, dessen Wohlstand zum großen Teil auf Arisierung und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus beruht, ihre Position nicht reflektieren. Ebenso wenig reflektieren sie, dass deutsche Linke im Namen des Internationalismus Anschläge auf jüdische Gemeindehäuser verübten oder, wie in Entebbe 1976, Geiseln einer Flugzeugentführung in Juden und Nichtjuden selektierten. In der DDR war Antizionismus Staatspolitik, zu Israel bestanden keine diplomatischen Beziehungen.

Der Zeitpunkt des Solidaritätsbriefs war ebenfalls verstörend. Man beklagte »Angst und Paranoia« in den Kultureinrichtungen, Selbstzensur und wie »gefährlich« der »Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs« sei, nachdem ein Jahr zuvor Menschen in der Synagoge von Halle um ihr Leben bangten. Zwei Menschen hat der Attentäter in Halle ermordet. Anfang 2020 gab es einen rassistischen Anschlag in Hanau, der Attentäter tötete 10 Menschen. Auf beide Terrorakte erfolgte keine vergleichbare Protestnote von Kultur- und Bildungseinrichtungen. Bereits 2020 wurde deutlich, was ich im Zusammenhang mit der Documenta fifteen beklage: Der Antisemitismusvorwurf wird mehr gefürchtet als der Antisemitismus.

Als nun im Januar vor der Documenta das »Bündnis gegen Antisemitismus Kassel« die Nähe des Kuratorenteams zu BDS problematisierte, war das ein ernstzunehmender Hinweis – auch wenn der entsprechende Blogbeitrag des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel nicht mit rassistischen Witzen sparte und israelisch-deutsche ­Intellektuelle wie Meron Mendel als »Diskursgauner« diffamierte. Zusätzlich gab es islamfeindliche Aufkleber an Documenta-Standorten, und ein Ausstellungsraum wurde verwüstet, wobei Graffiti hinterlassen wurden, die als Morddrohungen wahrgenommen wurden. Viele Künstlerinnen der Documenta fifteen hatten Angst vor rassistischen Feindseligkeiten in Kassel.

Nun ist es aber eingetreten, dass unter der Einladung von Ruangrupa anti­semitische Werke auf der Documenta zu sehen sind. Das Kuratorenteam hat in einer belastend langsamen Auseinandersetzung zur Verantwortungsübernahme gefunden, die sich hoffentlich fortsetzt.

Eigentlich sollte man keine Experten benötigen, um antisemitische Motive in Kunstwerken zu erkennen. Aber anscheinend mangelt es zu vielen Verantwortlichen an Wissen oder Bereitschaft. Der Antisemitismus steckt in Denkmustern, wird in Sprache und Bildern reproduziert und setzt sich letztendlich in Handlungen um. Er ist strukturell in der deutschen Gesellschaft verankert und überdies in allen Kulturen, die mit dem Christentum in Berührung kamen, die geprägt wurden von antiimperialistischen Bewegungen oder neuen Formen des Antisemitismus im Islam.

Das bedeutet nicht, dass man sich auf die Suche nach Antisemiten machen muss, um sie zu entlarven. Kaum jemand behauptet von sich, einer zu sein. Aber man sollte nicht erstaunt sein, dass diese Denkmuster in der Gesellschaft arbeiten, eben auch in einem selbst, und immer wieder sichtbar werden. Wenn wir uns damit begnügen, dass immer die anderen die Antisemiten sind – am besten noch Minderheiten oder Nichtdeutsche –, wird sich kaum was ändern.

Michaela Meise ist Künstlerin und Musikerin aus Hanau. Sie hat in Kassel, Frankfurt und Berlin studiert und beschäftigt sich mit antirassistischen und antifaschistischen Liedern.