In der Türkei häufen sich Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen

Zwischen Femiziden und Schauprozessen

In der Türkei steht es schlecht um Menschenrechte und Pressefreiheit. Regierungskritikern wird der Prozess gemacht.

Asiye Atalay hatte keine Chance. Die 19jährige ging am Abend des 5. Mai mit einer Freundin in Istanbul spazieren. Als ihr Ex-Freund, Ümit K., auftauchte, bemerkten Passanten, dass etwas nicht stimmte. Ein Nachbar filmte von einem Balkon aus, wie der 25jährige auf die schreiende junge Frau zugeht, die Hand hebt und sie mit einem Kopfschuss tötet. Ümit K. wurde festgenommen. Die Mutter Atalays gab zu Protokoll, dass der Täter bereits zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte, weil er seine Ex-Freundin heftig bedroht hatte. Sie war mittlerweile mit einem anderen Partner verlobt und wollte bald heiraten.

Die Verteidigung von Ümit K. plädiert auf verminderte Zurechnungsfähigkeit und hat gute Chancen, damit durchzukommen. Die damalige Anzeige wegen Belästigung kann als Argument dafür dienen, dass er chronisch eifersüchtig sei – was paradoxerweise als entlastend gilt. »In der Gerichtspraxis er­leben wir immer wieder, dass Eifersucht und Jähzorn von Tätern mit Strafminderung belohnt werden«, sagt die Feministin Cânân Arın. Die Juristin hat 2007 die Plattform für die Durchsetzung von Frauenrechten bei der Istanbuler Anwaltskammer gegründet. Frauen erhalten dort kostenlos Rechtsberatung, bei Bedarf auch Rechtsbeistand.

»Die Medien sind mehr oder weniger ganz in Regierungshand.« Sezgin Tanrıkulu, Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP)

Am 20. März 2021 ist die Türkei auf Beschluss von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aus dem 2011 beschlossenen und 2014 in Kraft getretenen Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ausgetreten. Für den 1. Juli 2021, als der Austritt rechtskräftig wurde, hatten Frauengruppen eine Demonstration dagegen in der Küstenstadt İzmir organisiert. Die Polizei setzte Pfeffergas und Knüppel ein, 17 Frauen wurden wegen Beleidigung des Präsidenten und Verstoßes gegen das Versammlungs- und Demonstrations­ge­setz festgenommen und gegen Meldeauf­lagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Im August 2021 akzeptierte ein Istanbuler Gericht die Anklageschrift, die für jede der Frauen eine Haftstrafe bis zu acht Jahren forderte. Arın sagt dazu: »Wenn Staatsdiener schon grundlos Gewalt gegen Demonstrantinnen ausüben, warum sollen sich Männer dann zu Hause zurückhalten?«

Anıt Sayaç ist eine Plattform gegen Frauenmorde. Sie registrierte in der Türkei 2021 insgesamt 420 Femizide. Amnesty International beruft sich auf Angaben unabhängiger Frauenrechts­organisationen und nennt 280 Frauen, die 2021 an den Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt starben, in 217 weiteren Fällen seien verdächtige Todesumstände festgestellt worden. Asiye Atalay wird auf der Liste von Anıt Sayaç als 135. Opfer in diesem Jahr in der Türkei gezählt.

Menschenrechtlerinnen und -rechtler beobachten ein politisch gewolltes Missverhältnis zwischen der Milde in der Verfolgung von Kapitalverbrechen und der Strenge bei der Ahndung politischer Delikte. Am 25. April wurden die acht Angeklagten im sogenannten Gezi-Prozess zu langen Haftstrafen verurteilt: Can Atalay, Çiğdem Mater, Hakan Altınay, Mine Özerden, Mücella Yapıcı und Tayfun Kahraman zu 18 Jahren Gefängnis und der Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala, der seit über viereinhalb Jahren im Gefängnis sitzt, zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe. Die sogenannten Gezi-Proteste richteten sich 2013 zunächst gegen den geplanten Bau eines Einkaufszentrum im Istanbuler Gezi-Park und weiteten sich später zu landesweiten Protesten für Demokratie und Menschenrechte aus.

»Politische Gefangene sitzen jahrelang in Untersuchungshaft, das sind Haftstrafen ohne Gerichtsurteil«, sagt Sezgin Tanrıkulu, ein Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), der selbst Jurist ist. »In der ersten Anklageschrift wurde Kavala wegen der Protestaktionen anderer, wie einem Klavierkonzert im Gezi-Park, beschuldigt, Drahtzieher der Ausschreitungen zu sein. Zum Schluss ging es dann nur noch um Gasmasken, die an seinem Ausstellungsort verteilt wurden, und ähnliche Bagatellen. Das ist Willkürjustiz.«

Die Architektin Mücella Yapıcı ist 72 Jahre alt. Bei ihrer Verurteilung sagte sie: »Ich habe keinen Diebstahl begangen, mich keiner Korruption schuldig gemacht. Mein Leben lang war ich ehrlich. (…) Wir sind stolz darauf, Gezi erhobenen Hauptes zu verteidigen.«

Die Regierung Erdoğan habe den Stand der Menschenrechte in der Türkei um Jahrzehnte zurückgeworfen und verstoße offenkundig gegen internationale Menschenrechtsnormen, stellte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) im Januar in ihrem Bericht zur weltweiten Menschenrechtslage fest. In der Türkei herrschten restriktive Bedingungen für Medien, Menschenrechtler, LGBT, kur­dische politische Aktivisten und andere als regierungskritisch ausgemachte Personen, resümiert der HRW-Bericht.

Ehemals führende Politikerinnen und Politiker der oppositionellen ­Demokratischen Volkspartei (HDP) wurden für fünf Jahre inhaftiert und vor dem Verfassungsgericht ist ein Verbotsverfahren gegen die Partei anhängig. Die politische Kontrolle über die türkischen Gerichte höhle rechtsstaatliche Prinzipien aus, so HRW. Straffreiheit für polizeiliche Übergriffe und gewalt­sames Verschwindenlassen sei nach wie vor weitverbreitet.

Im Januar veröffentlichte der CHP-Abgeordnete Tanrıkulu seinen jährlichen Bericht über Rechtsverletzungen in der Türkei. Demnach wurden im vergangenen Jahr 3 145 Menschen gefoltert und misshandelt. 250 Journalistinnen und Journalisten wurden in mindestens 130 Verfahren wegen ihrer Berichterstattung vor Gericht gestellt, mindestens 50 Personen wurden wegen ihrer journalistischen Aktivitäten inhaftiert, 26 Journalisten und Moderatoren aufgrund oder während ihrer Berichterstattung tätlich angegriffen. Zudem heißt es in dem Bericht, 64 Websites seien geschlossen und der Zugang zu 1 460 Nachrichten sei gesperrt worden. »Die Medien sind mehr oder weniger ganz in Regierungshand«, unterstreicht Tanrıkulu im Gespräch mit der Jungle World. »Die Justiz dient als Repressionsorgan und bestraft immer wieder zur Abschreckung Unschuldige.«

2007 wurde Hrant Dink, Herausgeber der armenisch-türkischen Zeitung Agos, auf offener Straße erschossen. »Der wurde noch posthum für Straftaten verurteilt, die er niemals begangene hatte«, so Tanrıkulu. Dink wurde verurteilt, weil er das Türkentum beleidigt und behauptet haben soll, die Türken hätten vergiftetes Blut. Dabei hatte er in einem Leitartikel an die Armenier appelliert, sich von ihrem Türkenhass zu befreien, der ihr Blut vergifte.

Garo Paylan ist Abgeordneter der HDP. Auch gegen ihn wurden schon Beleidigungsklagen angestrebt, allerdings erfolglos. Am 23. April reichte er im Parlament einen Gesetzentwurf ein, der die Anerkennung des Genozids an den Armeniern zum Thema hat. In sozialen Medien brach ein Shitstorm aus, nachdem die Vorsitzende der oppositionellen, aber nationalistischen İyi Parti (Gute Partei), Meral Akşener, die Aufhebung seiner Immunität gefordert hatte. Er verdrehe die Geschichte und beleidige Volk und Nation, so Akşener. Paylan erwiderte: »Meral Akşener hat mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen«, womit er die Krimina­lisierung von Oppositionellen treffend beschrieb, die sich immer mehr im Land etabliert.