Der Soziologe Harald Welzer besticht durch Täterfamilienkompetenz

Täter gegen Opfer

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»Borniertheit« hatte der Soziologe Harald Welzer in der Talkshow »Anne Will« dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk vorgeworfen. Allerdings drängte sich der Eindruck auf, dass das eher auf Welzer selbst zutraf. In der Sendung am Tag der Befreiung, dem 8. Mai, in der über Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert wurde, hatte Welzer sich berufen gefühlt, seine Ansichten zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für kompetenter als die von Melnyk dar­zustellen, weil Welzer als Abkömmling einer Täterfamilie des Nationalsozialismus über eine weiterreichende Erfahrung mit Kriegen verfüge als Melnyk. »Eine ganz präsente Kriegserfahrung« bestehe in vielen deutschen Familien, so Welzer. Danach ermahnte er den ukrainischen Botschafter, er solle mal »beim Zuhören« und nicht beim Kommentieren bleiben. Kritik an Welzers Position äußerte unter anderem der Pädagoge und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, der Welzer in einem Gastbeitrag für Zeit Online vorhielt, aus der Zugehörigkeit zur historischen Tätergemeinschaft, die es geschafft habe, »ihre Niederlage letztlich als etwas Positives zu verstehen«, »moralische Größe« zu gewinnen.

Anlass der Diskussion in der Talkshow war ein Ende April auf der Website der Zeitschrift Emma veröffentlichter offener Brief. Der Gewaltforscher Welzer gehörte neben Alice Schwarzer und anderen zu den Erstunterzeichnern, die an Bundeskanzler Olaf Scholz appellierten, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern, weil dies den Krieg verlängern würde und Deutschland »in den dritten Weltkrieg stolpern« könne, wie Alice Schwarzer schrieb.

In seinen Arbeiten als Soziologe setzte sich Welzer, ein ehemaliger Professor an der Universität Witten/Herdecke, mit dem Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht intensiv auseinander. In dem Buch »Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis«, an dem er als Herausgeber mitwirkte, befand er, dass in der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus von Täterschaft oder Verantwortung in den Familien wenig zu hören sei. Stattdessen fokussiere sie sich auf Verharmlosungen und vorgebliches Nichtwissen. In diesem Kontext scheint seine Position zum Angriffskrieg Russlands ­überraschend.