Das russische Regime folgt einer ­völkisch-imperialen Ideologie

Rackets und Räume

In vielen Analysen des Ukraine-Kriegs bleibt die spezifische ideologische Dimension von Wladimir Putins Racket-Regime unterbelichtet.
Disko Von

Das Streben nach Neu- beziehungsweise Wiederaufteilung der Welt in geo­politische Einflusszonen wird von vielen Linken, durchaus nicht nur von antiimperialistisch gesinnten, nach wie vor primär Nato und EU zugeschrieben, der Aggression von Wladimir Putins Regime zumindest eine reaktive Dimension zugebilligt. Die bisherigen Beiträgen zur Debatte in dieser Zeitung haben eine solche Sichtweise kritisiert, der Krieg wurde eher als Reaktion auf innere Krisen des autoritären russischen Herrschaftsmodells gedeutet. Auch wurde Putins spezifischer Autoritarismus in eine allgemeine Tendenz zum Autoritarismus eingeordnet, die der Verlaufsform des globalen kapitalistischen Krisenprozesses entspringe und spätestens mit der US-Präsidentschaft Donald Trump im kapitalistischen Kernland angekommen sei; bei den Verlierern der kapitalistischen Konkurrenz nehme diese Tendenz besonders regressive Formen an. Vor diesem Hintergrund wird auch der nun wieder beschworene Werte- und Systemgegensatz zwischen West und Ost als ideologische Imagination kenntlich, da diese Vorstellung eben nicht den Gegensatz zwischen universalen Freiheits- und Menschenrechten auf der einen Seite und deren Fehlen auf der anderen Seite abbildet, sondern eher den Zusammenhang zwischen beiden Modellen verdeckt.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist bewaffnete Identitätspolitik von rechts mit atomarer Option.

Werden autoritäre Herrschaftsformationen jedoch vor allem mit politisch-ökonomischen Krisendynamiken kurzgeschlossen, bleiben die spezifisch ideologischen Implikationen von Putins Autoritarismus unterbelichtet. Um zu verstehen, was mit diesem Krieg auf dem Spiel steht, ist ein umfassender Blick auf die Verbindung von Herrschaft und Ideologie im System Putin notwendig. Dieses stellt sich zunächst als mafiöse Racket-Herrschaft mit dem Autokraten Putin an der Spitze dar. Staatliche und rechtliche Institutionen wurden unter Putin systematisch zugunsten persönlicher Machtausübung ausgehöhlt.

Getragen wird dieses System von einer völkisch-imperialen Ideologie, ­deren missionarische Ansprüche nicht nur auf hinter die Sowjetunion zurückreichende Reichsmythen verweisen. Ihre Vertreter greifen auch auf das Denken der sogenannten Konservativen Revolution und den Antimodernismus Martin Heideggers zurück. In der hiesigen Linken wurde das bisher, wenn überhaupt, mit Blick auf die Putin-Begeisterung in der Neuen Rechten diskutiert.

Im Zentrum dieses Denkens wird oft die »neoeurasische« Ideologie des russischen Philosophen Aleksandr Dugin gesehen, der insbesondere nach der Annexion der Krim 2014 eine prominente Figur in der russischen Öffentlichkeit wurde. Er »beerbt bewusst das Denken der deutschen ›Konservativen Revolution‹ und setzt dem modernen Denken einen nicht mehr linearen, sondern zyklischen Zeitbegriff ebenso entgegen wie eine Lehre radikal verschiedener Seinsweisen und einer ›heiligen Geographie‹«, umschrieb Micha Brumlik 2016 zentrale Elemente von Dugins radikal antiuniversalistisch-identitären und antimodernen Denkens.

Wie groß der direkte Einfluss des sich gerne als Kreuzung aus Waldschrat und Rasputin gebenden Dugin auf Putin ist, bleibt allerdings umstritten. Putin bezieht sich auf den gegenrevolutionären und faschistischen russischen Denker Iwan Iljin (1883–1954), dessen Schriften die Präsidialverwaltung 2014 unter Gouverneuren und Spitzenbeamten verteilen ließ. Oppositionelle russische Intellektuelle sowie Osteuropa-Experten und -Expertinnen weisen darauf hin, dass Putins missionarisches Weltbild von großen Teilen der politisch-militärischen Führungsschicht und nationalistischen Think Tanks geteilt werde. Auch sogenannte Oligarchen im engen Umfeld Putins sind Ideologen, zum Beispiel Konstantin Malofejew. Dieser organisierte nicht nur neurechte europäische Vernetzungstreffen mit Dugin als Stargast wie etwa 2014 in Wien, sondern spielte eine Rolle bei der Annexion der Krim und der Abspaltung der »Volksrepubliken« im Donbass – einige der dortigen Separatistenführer waren zuvor Mitarbeiter Malofejews gewesen. Der bekennende Monarchist und russisch-orthodoxe Fundamentalist gab in einem Interview mit dem österreichischen Magazin Profil 2016 zu Protokoll: »Es gibt keine Ukrainer, weil wir alle Russen sind«, und zog homophob über die »sodomitische« EU her.

Ähnlich hat Putin in seinen Kriegsreden vom 21. und 24. Februar die historische Existenzberechtigung der Ukraine bestritten und »dem sogenannten kollektiven Westen« vorgeworfen, er versuche »unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen, (…) Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen«. Das homophobe Ticket fungiert hier offenbar ähnlich wie der antisemitische Topos von der jüdisch beeinflussten kulturellen Moderne.

Im Guardian analysierte der Philosoph Jason Stanley die antisemitischen Implikationen des in Putins Kriegspropaganda enthaltenen Weltbilds, dem zufolge Russland Opfer einer »Verschwörung einer globalen Elite ist, die das Vokabular von liberaler Demokratie und Menschenrechten instrumentalisiert, um den christlichen Glauben und die russische Nation anzugreifen«. Auch der Historiker Bill Niven analysierte auf der Website »Geschichte der Gegenwart« ideologische Äußerungen russischer Regierungsvertreter, die er als »antisemitische Verschwörungstheorien« beschrieb.

Ein weiterer Grundpfeiler des Denkens Putins und seines Umfelds ist eine an Carl Schmitt geschulte Feindbestimmung. Volker Weiß umschrieb diese in seinem Buch »Die autoritäre Revolte« mit dem Motiv vom »Feind in Raum und Gestalt« im neurechten Denken. Der fragliche Raum ist in der Putin’schen Variante eine historisch gewachsene russische Sphäre, die gegen westliche Einflussnahme und angebliche Zerstückelungspläne zu verteidigend ist und sich nicht nur geostrategisch bestimmt, sondern vor allem durch ein kulturidentitäres Denken in imperialen Kategorien. Die Gestalt des Feindes ist darin ein imaginärer Westen, der als äußere wie auch innere Gefahr die russische Identität aufzulösen drohe. Die ist ­definiert durch vorgeblich traditionelle Werte von Kultur, Religion und binär-hierarchischer Geschlechterordnung, die durch die als »westlich« markierten universellen Prinzipien von Menschen- und individuellen Freiheitsrechten bedroht seien.

Wie eng dabei innere und äußere Feindbestimmung verknüpft sind, zeigt die von Putin am 16. März gehaltene Wutrede, in der er gegen eine »fünfte Kolonne« von »nationalen Verrätern« vom Leder zog, die im westlichen Ausland »nicht ohne Gänseleber, Austern und sogenannte Gender-Freiheiten leben können« und »nicht beim russischen Volk« seien. Nicht zufällig fällt hier die gleiche homophobe Chiffre für die Bedrohung der traditionellen Werteordnung durch gesellschaftlich-kulturelle Modernisierung wie in seiner oben zitierten Kriegsrede gegen den äußeren Feind. Adressaten dieser Tirade waren nur vordergründig westlich-liberal gesinnte Oligarchen, die Putin die Loyalität verweigern, letztlich aber die ganze demokratisch gesinnte und intellektuelle Opposition – das »russische Volk« würde diesen »Abschaum« in einem Akt der »Selbstreinigung« »ausspucken wie eine versehentlich in den Mund geratene Fliege«.

Die doppelte Feindbestimmung nach innen und außen trifft auf die Logik des Rackets: Wie in einer Mafiabande schuldet man dem Paten absolute ­Loyalität, Verrat wird hart bestraft. Die Hinwendung zum liberalen Westen ist für Putin ein solcher Verrat. Auch deshalb geht er, seit er erstmals Präsident geworden ist, ebenso gegen westlich-liberal orientierte Oligarchen wie Michail Chodorkowskij vor wie gegen Menschenrechtsgruppen und zivil­gesellschaftliche Opposition, die allesamt »ausländische Agenten« seien. Deshalb begann er 2014, die Ukraine zu bekriegen, die durch ihre mit der »Orangen Revolution« und dem Euromaidan eingeleitete Orientierung in Richtung EU gewissermaßen die Loyalität, die sie Russland schulde, vermissen ließ und Verrat beging.

Es geht dabei um weit mehr als nur ideologisches Lametta, mit dem sich eine Kleptokratie zu Legitimationszwecken ausstaffiert. Putin und seine Führungsschicht sind offenbar obsessiv getrieben von narzisstischen Kränkungen eines imperialen russischen Selbstbilds, hervorgerufen durch die Auf­lösung der Sowjetunion wie auch den vorhergegangenen Niedergang des ­Zarenreichs. Für beides werden die dem »kollektiven Westen« zugeschrieben universalistischen Prinzipien verantwortlich gemacht; Putin will Russland von dieser Schmach erlösen und zu alter und neuer Größe führen. Dieses Weltbild bedeutet nicht weniger, als dass Putin und sein Umfeld die emanzipatorisch-aufklärerischen Momente der Moderne auf eine ähnliche Weise hassen wie militante Islamisten oder eben die an der sogenannten Konservativen Revolution orientierten Rechtsextremen im Westen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist so gesehen bewaffnete Identitätspolitik von rechts mit atomarer Option.