In Schleswig-Holstein wurden die ältesten Wagenspuren der Welt gefunden

Ins Rollen gebracht

Laborbericht Von

Als Menschen so etwa im fünften Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung erstmals eine runde Scheibe mit einer drehbaren Achse kombinierten, konnten sie nicht ahnen, dass sie damit die Grundlage für Verkehrsinfarkt, Autolärm und Klimakrise schufen. Zunächst diente die Innovation offenbar nicht einmal der Fortbewegung, sondern als Töpferscheibe, wie Funde aus dem Industal und Mesopotamien nahelegen.

Wann und wo genau die Idee aufkam, dass man die Scheiben ja auch senkrecht stellen und an ein Transportmittel montieren könnte, ist nicht ganz klar; fest steht aber, dass die Innovation bis zur Mitte des vierten Jahrtausends v. Chr. mindestens von Mesopotamien bis Mitteleuropa verbreitet war. Das belegen Abbildungen ebenso wie Modelle von Rädern und Wagen aus dieser Zeit. Ab der zweiten Hälfte des Jahrtausends finden sich auch ­Wagen als Grabbeigaben – Fahrzeuge dienten offenbar schon am Übergang zwischen Jungsteinzeit und Bronzezeit als Statussymbole.

Für eine kleine archäologische Sensation sorgte kürzlich ein Fund bei einer Ausgrabung im schleswig-holsteinischen Flintbek. Bei zwei unscheinbaren Bodenverfärbungen aus der Zeit um 3400 v. Chr. handelt es sich um die ältesten bekannten Wagenspuren der Welt. Das lässt sich daraus schließen, dass die Breite der Verfärbungen genau mit jener von jungsteinzeitlichen Holzrädern übereinstimmt und der Abstand zwischen den Rillen der Breite jungsteinzeitlicher Wagenachsen entspricht.

Obwohl die Hinterlassenschaften an Bremsspuren erinnern, handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit nicht um das Zeugnis eines prähistorischen Kavalierstarts: Die Fortbewegung gestaltete sich damals eher gemächlich mit Ochsen als Zugtieren. Auch über Geschwindigkeitsbeschränkungen wurde damals wohl noch nicht diskutiert.

Die Entdeckung aus Norddeutschland wirft nicht unbedingt die gängige These über den Haufen, dass das Wagenrad ursprünglich in der eurasischen Steppe erfunden wurde. Für diese These spricht, dass man in der spärlich ­bewachsenen Ebene nicht erst Wälder roden und befestigte Verkehrswege schaffen musste (Schleswig-Holstein war seinerzeit dicht bewaldet), um die neue Erfindung zu nutzen. Vielleicht wurde dort schlicht noch nicht so gründlich gesucht oder der Steppenboden eignete sich schlechter zur ­Konservierung entsprechender Spuren.

Das Statement des Kieler Archäologen Johannes Müller, die Entdeckung rücke Flintbek »in das Zentrum einer der entscheidenden Innovationen der Menschheit«, wirkt etwas überen­thusiastisch und lokalpatriotisch. Überhaupt sollte man mit dem Stolz vielleicht etwas vorsichtig sein, wenn man bedenkt, welche Entwicklung damals in Rollen gebracht wurde. Sehr viel später bescherte die eindeutig deutsche Erfindung der benzingetriebenen Kutsche der Menschheit das ganz und gar nicht mehr fortschrittliche Automobilzeitalter.