Vergessene Vergangenheit
Philippinische Wahlen sind Materialschlachten. Wälder von Plakaten der unzähligen Kandidatinnen und Kandidaten für die auf lokaler, Provinz- und nationaler Ebene bei den Wahlen am 9. Mai zu vergebenden Mandate säumen die Ränder von Kreuzungen, sie hängen an Häusern, Minibussen, Tricycles (Motorrad- und Fahrradrikschas) und privaten Autos.
Zumeist sind nur Namen und Gesichter zu sehen. Die Wahlkampfplakate sind inhaltsleer – nichts Ungewohntes auf den Philippinen, wo Parteien meist Vehikel für persönliche Ambitionen, die Parteibindungen locker und befristet, ideologische Fundamente schwach entwickelt sind. Der Staat aus 7 000 Inseln stand erst über drei Jahrhunderte unter spanischer Kolonialherrschaft, bevor er mit der Revolution von 1898 die erste Republik Asiens bildete. Doch bereits nach wenigen Monaten geriet das Land für ein halbes Jahrhundert unter die Kolonialherrschaft der USA; im Zweiten Weltkrieg wurde es von Japan erobert. Die seit 1946 unabhängigen Philippinen sind zutiefst durch Klientelismus geprägt.
Der größte Teil des von Ferdinand Marcos unterschlagenen Geldes ist weiterhin verschwunden, während Marcos Jr. zeitweise nicht einmal Steuern zahlte.
Als Favorit bei der Präsidentschaftswahl gilt Ferdinand Marcos Jr., genannt Bongbong. Er ist der Sohn des ehemaligen Diktators Ferdinand Marcos, der 1986 durch die »People Power«-Bewegung gestürzt wurde. Seine Verbündete Sara Duterte, die Tochter des aus dem Amt scheidenden Präsidenten Rodrigo Duterte, ist die Favoritin bei der separaten Wahl für die Vizepräsidentschaft. Plakate mit den Gesichtern des rechtskonservativen Duos finden sich selten zwischen Dutzenden Porträts und Namenszügen anderer Kandidaten und Kandidatinnen. Doch das täuscht. Die jüngsten Umfragen sehen Marcos Jr. und Duterte mit je etwa 56 Prozent Zustimmung praktisch uneinholbar in Führung. Weit abgeschlagen ist das Feld der Konkurrenten und Konkurrentinnen, die bestenfalls die weitere Rangfolge unter sich ausmachen und einander ein paar Prozentpunkte abjagen können, statt zum Spitzenduo aufzuschließen.
Die einzige, die vielleicht noch verhindern könnte, dass Marcos in den Präsidentenpalast Malacañang einzieht, ist Vizepräsidentin Leni Robredo. Schon einmal traten beide gegeneinander an: Hauchdünn war bei der Vizepräsidentschaftswahl 2016 der Vorsprung der Kandidatin des liberalen Lagers vor Marcos Jr. Derzeit ist sie aber mit Umfragewerten von etwa 24 Prozent zwar Zweitplatzierte, aber weit abgeschlagen.
Nur im einstelligen Bereich rangieren andere, die sich anfangs Hoffnungen gemacht hatten. Da ist Emmanuel »Manny« Pacquiao, eine Boxerlegende mit Weltmeistertiteln in sieben Gewichtsklassen, der derzeit Senator ist und 2020 unter Dutertes Förderung bis zum Vorsitzenden der Regierungspartei PDP-Laban aufstieg. Diese ist aber inzwischen de facto gespalten.
In den Umfragen auf Rang drei liegt der frühere Schauspieler Francisco Domagoso, besser bekannt unter dem Künstlernamen Isko Moreno. Er ist seit 1998 politisch aktiv und hat zuletzt alle zwei oder drei Jahre die Partei gewechselt. Mit der Demokratischen Aktion hat Moreno, der derzeit Bürgermeister der Hauptstadt Manila ist, nun sogar seine eigene.
Manila ist eine von 17 selbständigen Städten in der gleichnamigen Metropolregion, in der rund 25 Millionen Menschen leben. Zur Stadt Manila zählen auch eine Chinatown und vor allem Tondo, das größte Armenviertel. Dort wuchs Moreno einst selbst auf, bis ihn 1993 ein Talentscout entdeckte, was ihm seine Schauspielkarriere ermöglichte.
Zwar gilt Isko Moreno, dessen Konterfei in Tondo öfter als das jedes anderen der neun Bewerber zu sehen ist, als weitgehend skandalfrei und als fähiger Administrator; er erhielt als Bürgermeister diverse internationale Auszeichnungen. Dass Manila relativ glimpflich durch die Covid-19-Pandemie kam, hat die lokale Bevölkerung vor allem seinen Maßnahmen und konkreten Hilfen, auch finanzieller Art, zu verdanken.
Wer in Tondo zwischen den Miniläden und windschiefen Unterkünften herumfragt, stößt in größerer Zahl auf Anhängerinnen und Anhänger des rührigen Bürgermeisters. »In der Pandemiezeit haben wir von ihm immerhin 1 000 Pesos pro Monat erhalten«, sagt Aida, eine Ladeninhaberin mittleren Alters. Doch andere betonen, dass diese Zahlung von umgerechnet knapp 18 Euro nicht bei allen angekommen sei. Ihre Schwester Fe wolle ungeachtet der Finanzhilfe für Marcos Jr. stimmen, sagt Aida. Diese Absicht bekundet auch der 27jährige Rovel, der an einer Straßenecke frittierte Hühnerschenkel verkauft. Als Grund führt er die Hoffnung auf niedrigere Lebenshaltungskosten an, die es zu dessen Vaters Zeiten gegeben habe. Was da sonst noch alles war unter Marcos Sr., interessiere ihn nicht.
Mehrere Milliarden US-Dollar sollen der Diktator, der 1989 im Exil starb, seine noch lebende Witwe Imelda und die Kinder außer Landes geschafft und unterschlagen haben, bevor die USA ihren Verbündeten 1986 nach Hawaii ausflogen. Bis heute gilt dies als eine der größten Plünderungen einer Staatskasse. Der größte Teil des Geldes ist weiterhin verschwunden, während der jetzige Präsidentschaftskandidat Marcos Jr. zeitweise nicht einmal Steuern zahlte. In der Wahlkommission Comelec kamen deshalb Fragen zur Zulassung seiner Kandidatur auf, die das Gremium aber bis zum Fristablauf aussaß.
Mit dem scheidenden Präsidenten Rodrigo Duterte, der gemäß der Verfassung nicht für eine zweite Amtszeit antreten darf und nun Senator werden will, liegt Marcos Jr. politisch auf einer Linie. Schließlich war es Duterte, der 2017 den Tabubruch beging, die Familie Marcos die sterblichen Überreste des Diktators auf dem Heldenfriedhof in Manila beisetzen zu lassen. Allerdings hätte der aus Davao auf der Insel Mindanao stammende Duterte gern seine Tochter Sara als Nachfolgerin gesehen – sie entschied sich, nachdem sie sich länger geziert hatte, nur für die Vizepräsidentschaft zu kandidieren und würde in diesem Amt, dessen Befugnisse nicht klar umrissen sind, anders als derzeit Robredo den Präsidenten wohl nicht kritisieren.
Manny Pacquiao, der ebenfalls aus Mindanao stammt, hat offenbar selbst in seiner Herkunftsstadt General Santos City keinen allzu großen Rückhalt als Politiker. Ein Stimmungsbild auf den Straßen zeigt: Sogar dort werden die meisten wohl für Marcos Jr. stimmen. Eine von 500 auf 1 000 Pesos verdoppelte Rente, bessere Bildung, Sozialwohnungsbau und generell »mehr Hilfe für die Armen«, das erhofft sich die aus einer Fischerfamilie stammende 70jährige Gertrud – dabei hat Marcos solche Absichten nie geäußert.
Viele können auf Nachfrage nicht erklären, warum sie gerade Marcos wählen wollen. Die Diktatur mit ihrer Repression und den politischen Morden – prominentestes Opfer war der Oppositionsführer Benigno Aquino Jr., der 1983 bei einem Attentat starb – liegt noch nicht allzu lange zurück, doch die Philippinen sind demographisch ein sehr junges Land. Die meisten Wahlberechtigten waren damals Kinder oder noch nicht geboren. Ihnen fehlt offenbar das Bewusstsein dafür, welcher historische Ballast sich mit dem Namen Marcos verbindet und welch bedrohliche Zukunftsaussichten er verheißt.
Überspitzt gesagt, hat schon der erzkonservative Präsident Duterte die philippinische Demokratie in seiner Amtszeit sturmreif geschossen – teils sogar im Wortsinn. Mindestens 6 200 (so die jüngste Angaben der staatlichen Drogenbekämpfungsbehörde PDEA), eher 8 000 und mehr Tote hat der blutige Antidrogenkrieg bisher gefordert, der zum Symbol der Präsidentschaft Dutertes wurde und ihm Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs eintrug. Duterte ließ auch viele Gegnerinnen und Gegner kaltstellen, ihrer Ämter entheben wie die einstige Chefrichterin am Obersten Gerichtshof, Maria Sereno, oder gleich ins Gefängnis werfen wie die liberale Senatorin und frühere Vorsitzende der nationalen Menschenrechtskommission, Leila de Lima.
Leni Robredo, die namhafteste verbliebene Kritikerin Dutertes, schützte nur ihre Position als Vizepräsidentin. Doch sie wurde aus dem Kabinett verbannt und blieb so ohne realen Einfluss in der Regierung. Die Pressefreiheit hat ebenfalls gelitten, kaum jedoch die Popularität Dutertes. Mit dem Duo Ferdinand Marcos Jr. und Sara Duterte drohen den Philippinen nun weitere düstere Zeiten.