Luke Holland befragt im Dokumentarfilm »Final Account« greise Unterstützer des NS-Regimes

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In seinem Dokumentarfilm »Final Account« befragt der britische Regisseur Luke Holland frühere SS-Mitglieder, aber auch Zivilisten nach ihrer Mitschuld und Täterschaft. Der Film ist ein eindringliches Porträt der letzten Generation, die noch im Nationalsozialismus gelebt hat.

Im Januar entbrannte eine Diskussion über einen Videobeitrag von »Funk«. Das Jugendportal von ARD und ZDF ­hatte einen 87jährigen Zeitzeugen zu seinen Erfahrungen ­während des Nationalsozialismus befragt. »Funk« wollte mit dem Gespräch illustrieren, wie absurd die Behauptung von »Querdenkern« sei, dass sich die Bundesrepublik in eine Diktatur verwandelt habe. Aber gut gedacht ist nicht gut gemacht. Während sich viele Zuschauer in den Kommentarspalten beeindruckt vom Gespräch zeigten, beklagten einige Kritiker, dass der Zeitzeuge auf bekannte Muster der Schuldabwehr ­zurückgreife: Die deutsche Bevölkerung sei brutal unterdrückt worden und habe sich keineswegs freiwillig an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt. Nicht zum ersten Mal wurde die methodische Schwäche von Oral History damit offenbar. Was als individuelle Erinnerung erscheint, entspringt in Wahrheit ideologischen Mustern. Die Gedächtnisinhalte des Einzelnen verbinden sich mit kollektiven Mythen und Entlastungserzählungen.

Mit diesem Problem sah sich auch der britische Regisseur Luke Holland während seiner Arbeit an der Dokumentation »Final Account« konfrontiert – und zwar in bestürzendem Ausmaß. Holland, dessen Großeltern, ­österreichische Juden, im Holocaust ermordet worden waren, hat Männer und Frauen in Deutschland und Österreich interviewt, die auf unterschiedlichen Ebenen am nationalsozialistischen Herrschaftssystem beteiligt gewesen waren. »Ich wollte vor allem die Umstände besser verstehen, die zum Tod meiner Großeltern geführt hatten«, sagt er in einem dem Pressematerial beigefügten Interview. »Zuerst verfolgte ich das völlig utopische Ziel, die Leute zu finden, die sie getötet hatten. Schnell wurde klar, dass mir das nicht gelingen würde. Ich erkannte aber, dass ich Gleichgesinnte treffen könnte: Ich könnte Menschen begegnen, die ebenfalls für Hitler zu den Waffen gegriffen und grausame Verbrechen begangen hatten.« Luke Holland sprach über zehn Jahre hinweg mit unterschiedlichsten Menschen und interviewte dabei rund 250 Zeitzeugen zu ihren Erfahrungen und Erinnerungen. In den Gesprächen mit den ­ehemaligen Angehörigen von NS-Jugendorganisationen, Wehrmacht und SS versuchte sich der Regisseur der Frage anzunähern, wie es dazu kommen konnte, dass »ganz gewöhnliche Deutsche« (Daniel Goldhagen) die nationalsozialistischen Verbrechen begingen.

Zu den Stärken des Films gehört, dass es Holland immer wieder gelingt, die Fassade aus zurecht­gelegten Geschichten zu erschüttern. In diesen Momenten erinnert der Film tatsächlich an die Arbeit Lanzmanns.

Während der Dreharbeiten im Jahr 2015 erfuhr der Regisseur von seiner Krebserkrankung, der er im Juni 2020 nach Abschluss der Postproduktion erlag. Die Premiere des für ihn wichtigsten Films in seiner Karriere erlebte er nicht. Beeinflusst wurde Holland nicht zuletzt durch den französischen Dokumentarfilmer Claude Lanzmann (1925–2018), der für sein monumentales Werk »Shoah« zahlreiche NS-Täter interviewt und teilweise mit versteckter Kamera gefilmt hatte. Holland traf Lanzmann erstmals in den neunziger Jahren. Hollands Collagen von Gesprächen und unbewegten Aufnahmen der Orte der nationalsozialistischen Verbrechen erinnern bisweilen an die Ästhetik von »Shoah«. Im Unterschied zu Lanzmann hat sich Holland entschieden, auch historische Originalaufnahmen, etwa von Veranstaltungen der Hitlerjugend, zu verwenden. Einige Szenen sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen.

Die meisten Antworten, die Holland in seinen Gesprächen erhält, folgen bekannten Mustern: Die Hitler­jugend und der Bund Deutscher ­Mädel seien lediglich wegen der Freizeit- und Sportangebote und der ­guten Kameradschaft anziehend gewesen; in die SS sei man auch nur eingetreten, weil man zur Elite des Landes gehören wollte. Der Antisemitismus wird von den meisten Interviewten als merkwürdiger Neben­aspekt der NS-Ideologie dargestellt, den man schulterzuckend akzeptiert habe. Viele der Zeitzeugen scheinen Geschichten abzuspulen, mit denen sie bisher auf wenig Widerstände stießen. In manchen Fällen bestehen diese Erzählungen aus Halbwahrheiten oder handfesten Lügen. Zwei der Interviewten zeigen keinerlei Distanz zum Nationalsozialismus; ein ehemaliger SS-Mann aus Österreich leugnet sogar vor laufender Kamera den Holocaust: Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden sei nichts als »ein Witz«.

Zu den Stärken des Films gehört, dass es Holland immer wieder gelingt, die Fassade aus zurechtgelegten Geschichten zu erschüttern. In diesen Momenten erinnert der Film tatsächlich an die Arbeit Lanzmanns: Holland spricht mit seinen Interview­partnern auf Deutsch. Man merkt, dass es nicht seine Muttersprache ist. Er hakt höflich, aber bestimmt nach. In den meisten Fällen kommt er jedoch trotzdem nicht weiter. Holland hat einen Film über Täter gedreht, die sich nicht als Täter ver­stehen. Sie sind bereit, ausführlich zu erklären, wie das Halstuch des BDM korrekt geknüpft wird, oder singen das Horst-Wessel-Lied. Wenn es jedoch um die eigene Beteiligung an Verbrechen geht, flüchten sie sich in eine wortkarge Passivität: Man habe zwar von den Verbrechen gehört, ­begangen aber hätten sie andere. Explizit gefragt, ob sie sich nicht auch selbst als Täter bezeichnen müssten, weichen die meisten aus. Eine ehemaligen Lagersekretärin ist überzeugt, dass nur Gott die Frage der Schuld beantworten könne; ein ­ehemaliger SS-Mann windet sich in Konjunktivsätzen und bittet schließlich mit einem verlegenen Lächeln, das Interview zu beenden.

Die fehlende Bereitschaft, eigene Verantwortlichkeiten anzuerkennen, könnte erklären, wieso die meisten Gespräche merkwürdig emotionslos verlaufen. Die fast vollständige Abwesenheit negativer Gefühle lässt »Final Account« zur filmischen Illustration einer These werden, die die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich bereits vor 55 Jahren formuliert hatten: Die deutsche »Unfähigkeit zu trauern« sei »das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst«. Um sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu können, müsse man zunächst anerkennen, selbst einen Verlust erlitten zu haben. Mit dem Tod Adolf Hitlers sei ein »narzisstisches Objekt« verlorengegangen, was zu einer »Ich- oder Selbstverarmung und -entwertung« geführt habe. Erst die Einsicht, wie stark die eigene ­Psyche an das nationalsozialistische Herrschaftssystem gebunden gewesen sei, könne einen Raum für die Trauer über die Opfer öffnen.

Nur eine einzelne Szene sticht aus der Aneinanderreihung von Ausflüchten und Relativierungen hervor. Holland begleitet das Zeitzeugengespräch eines ehemaligen SS-Angehörigen im Haus der Wannsee-Konferenz. Konfrontiert mit der Aufforderung eines offensichtlich rechtsextremen Jugendlichen, er solle doch stolz auf seine Vergangenheit sein, verliert der alte Mann die Fassung: Er könne nicht verkraften, Teil einer verbrecherischen Organisation gewesen zu sein. Schließlich fällt ein Satz, auf den man in den anderen Interviews vergeblich gewartet hat: »Ich schäme mich dafür.«

Wieso diese Reaktion die Ausnahme und nicht die Regel ist, darauf gibt Hollands Film keine Antwort. Dabei wäre die Frage interessant, welche Bedingungen einem Selbstreflexionsprozess zugrunde liegen, an dessen Ende die eigene Täterschaft anerkannt werden kann. Vermutlich hätte Holland dafür aber auch die Zeit nach 1945 in den Blick nehmen müssen: Wieso konnten die Interviewten ungestört an ihren Geschichten festhalten? Wieso ist es so selten zu Konfrontationen gekommen?

Ganz am Ende versucht Holland dann, doch noch eine positive Entwicklung anzudeuten. Den Abschluss des Films bildet ein Zitat Angela Merkels, in dem sie die deutsche Verantwortung für die Vergangenheit anerkennt und ihre Scham über die Verbrechen ausdrückt. Ob diese Aussage repräsentativ für die Bevölkerung ist, bleibt allerdings fraglich. Möglicherweise wird sich das Kinopublikum mit den wohlbekannten Erzählungen auf der Leinwand identifi­zieren, anstatt ein tiefes Unbehagen zu verspüren.

Final Account (US/UK 2020). Buch und ­Regie: Luke ­Holland. Filmstart: 28. April