Die außenpolitische ­Aggressivität Russlands soll ein fragiles Staatsgebilde stabilisieren

Der blinde Fleck der Geopolitik

Die Gründe für den russischen Angriff auf die Ukraine nur in geopoli­tischen Konstellationen zu suchen, ist nicht nur apologetisch, sondern verstellt auch den Blick auf die inneren Ursachen der russischen Außenpolitik: Die Aggression nach außen soll ein fragiles Staatsgebilde stabilisieren.

Von einem »neuen Historikerstreit« war im vergangenen Jahr viel die Rede. Den Anlass gab die Debatte, inwieweit der Holocaust als singuläre Tat oder als anderen Genoziden vergleichbar zu ­begreifen sei (Jungle World 6/2022). Den »alten« Historikerstreit hatte der konservative Historiker Ernst Nolte ausgelöst. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung formulierte er 1986 eine vielfach skandalisierte These: Der Holocaust sei zwar nicht zu rechtfertigen gewesen, aber nicht zuletzt als Reaktion auf die Gräuel des Bolschewismus anzusehen. Als dessen nächste Opfer hätten sich die Nazis nämlich gewähnt. Daher sei nicht nur von einer Vergleichbarkeit, sondern von einem Zusammenhang beider Taten auszu­gehen.

Belegen wollte Nolte diese These durch die von ihm reklamierte geopolitische Perspektive. Bisherige Analysen »des Dritten Reiches und seines Führers« hätten nämlich in erster Linie den »innerdeutschen Aspekt« im Blick gehabt. Demgegenüber sei auf einem Primat der Außenpolitik zu insistieren: Aus der Angst Deutschlands vor der ­Sowjetunion ergibt sich ihm zufolge ein »kausaler Nexus«, der Auschwitz als Konsequenz des »Archipel Gulag« erscheinen lässt. Nolte habe Vernichtungskrieg und Judenmord »als eine Art von putativer Notwehr« der Nationalsozialisten präsentiert, so spitzte der Historiker Ulrich Herbert später die Volte des berüchtigten Texts zu.

Eine formal ähnlich Argumentationsstrategie ist seit Jahren auch in den Diskussionen über die Politik Russlands im Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten beliebt: Nicht die innere Struktur des russischen Herrschaftssystems sei maßgeblich, um das Vorgehen von Präsident Wladimir Putin zu verstehen, sondern außenpolitische Zusammenhänge. Natürlich ist Putin kein Wiedergänger Hitlers, aber das geopolitische Argument hat beide Male einen deutlich apologetischen Zug.

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