Die Tagebücher des Filmemachers Jonas Mekas

Im Irrgarten der Avantgarde

Jonas Mekas war der wohl wichtigste Experimental­filmemacher der USA. Seine Tagebücher legen Zeugnis seines unermüdlichen Einsatzes für den Film ab, offenbaren aber auch, wie ihm das Avantgardetum zu Kopfe stieg.

Es ist gerade der technischen Komponente von Fotografie und Film zu verdanken, dass in ihren Bildern ein versöhnliches Verhältnis von Technik und Natur aufscheint. Diese Versöhnung scheint einen Kern des Schaffens von Jonas Mekas auszumachen. In seinem monumentalen filmischen Werk, knapp 60 Jahre umspannend, collagierte er flackernde und zuckende New Yorker Alltagsszenen mit Aufnahmen des Who’s who der New Yorker Avantgardekunst. Gleichwohl zog es Mekas immer wieder in die Natur, wenn auch die kultivierte. In seinem Erstlingswerk »Guns of the Trees« von 1961 beispielsweise ist es ein Kohlfeld, auf dem Mekas eine Gruppe von Pantomimen tänzeln lässt.

In seiner mehr als vierstündigen autobiographischen Arbeit mit dem programmatischen Titel »As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty« aus dem Jahre 2000 wird die Kamera wiederholt auf New Yorker Hinterhofgärten, Bäume in Parks und Blumenkästen auf Balkons gerichtet. Dann schwenkt sie um auf Schornsteine, Dächer und Häuserfassaden, auf das Getümmel in den Straßen von Manhattan, im Diner frühstückende Menschen oder Partyaufnahmen plus Zigarettendunst. Alle Einstellungen sind unermüdlich in hektischer Bewegung, alles verändert sich stetig, von der handgehaltenen Kamera bis hin zur Geschwindigkeit, in der der Film abgespielt wird. Film war Mekas ein Tagewerk, das in der Dokumentation gelegentlich aufblitzender Schönheit bestand.

1922 in Litauen geboren, überlebte Mekas in Deutschland ein Arbeits­lager der Nazis, studierte nach dem Krieg in Mainz Philosophie und emigrierte Ende der vierziger Jahre in die USA. In New York City stieß er schnell in den Kreis verschiedener Avantgarde-Filmclubs vor und gab von 1954 an die Zeitschrift Film ­Culture heraus. Spätestens seit den sechziger Jahren galt Mekas als Pate der US-amerikanischen Kunstavantgarde. Sein Bekanntenkreis um­fasste The Velvet Underground, Andy Warhol, Allen Ginsberg, Kenneth Anger, Jack Smith, Henri Langlois – den Leiter der Pariser Cinémathèque française – und irgendwann auch Yoko Ono und John Lennon.

Mekas stachelte nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Kurator und Diskussionsteilnehmer die Zusammenarbeit zwischen Filmemachern, Schriftstellerinnen und Musikern an.

In vielleicht demonstrativer Bescheidenheit bezeichnete Mekas seine Filme stets als Notizen beziehungsweise Tagebucheinträge. Sie galten ihm Chroniken seines Umfelds, die er sozusagen drehen musste, weil er gar nicht anders konnte. Tatsächlich sind sie sich verflechtende, wuchernde Gebilde, in denen persönliche wie künstlerischen Beziehungen mit­einander verwachsen. Mekas kannte nicht nur alles, was in der Kunstszene Rang und Namen hatte (oder sich gerade einen machte), er kultivierte auch ihre produktiven Verbindungen. Er stachelte nicht nur als Regisseur, sondern auch als Kurator und Diskussionsteilnehmer die Zusammenarbeit zwischen Filmemachern, Schriftstellerinnen und Musikern an.

Mekas war einer der wenigen frühen Fürsprecher von John Cassavetes’ Regiedebüt »Shadows« aus dem Jahre 1958, dem heutzutage wegweisende Bedeutung für das postklas­sische US-Kino überhaupt und insbesondere für das New Black Cinema beigemessen wird. Für die Vorführung von »Flaming Creatures«, den queeren Underground-Klassiker von Jack Smith, erhielt Mekas 1964 eine Bewährungsstrafe.

In seiner eigenen Arbeit ließ Mekas Schreiben und Filmemachen ein­ander zuarbeiten, verschob ihre Demarkationslinien unermüdlich. Seine Tagebücher wurden in zwei Bände von insgesamt über 2 000 Seiten Umfang veröffentlicht, die in Deutschland den Titel »I Seem to Live« tragen und deren zweiter Band kürzlich erschienen ist. Sie stecken voller flüchtiger, aber eindrucksvoller ­Naturmetaphern. Seine Immigration in die Vereinigten Staaten beschreibt Mekas weniger als bewusste Entscheidung denn als eine Art »Verpflanzung« durch die United Nations Refugee Organization. Nachdem er bei seiner Ankunft in New York das erste Mal über den Times Square ging, nennt er diesen in seinem Tagebuch einen neon light maze, einen Irrgarten der Neonlichter. Der Avantgarde- beziehungsweise Independentfilm galt ihm als eine Verzweigung unter vielen am »großen Baum« der Kunstform Kino. Den kulturellen Boden der Großstadt unbedingt bestellen, so hat Mekas in einem Interview mit dem Soziologen Yasushi Xavier ­Tanaka-Gutiez die Maxime seines künstlerischen Ethos zusammen­gefasst: Letzten Endes, sagte er, sei er immer ein Farmer gewesen.

Ab den siebziger Jahren (in denen auch die Aufzeichnungen aus dem zweiten Band der Tagebücher beginnen) mischen sich zu diesem hehren Künstlerethos aber auch unverhohlene Ausfälligkeiten. »Art long – temper short«, vermerkt Mekas an einer Stelle. Was für ihn zuvor noch koexistieren konnte, Avantgardekino und Unterhaltungskino, wird nun erbittert hierarchisiert. Die Avantgarde sei moralisch wie menschlich wertvoller als das kommerzielle Kino – Publikum und Kritiker, die das nicht einsähen, seien schlichtweg ungebildet.

Der unermüdliche Gärtner und Feldarbeiter der Avantgarde, der seiner künstlerischen Arbeit bescheiden nachging, die ihm doch so wichtig war, zeigt sich hier empfindlich verletzt. Nicht nur, wie man vermuten könnte, wegen seiner fortwährend knappen finanziellen Ressourcen und des persönlichen Tributs, den das Ringen um öffentliche Anerkennung des Avantgardefilms von ihm forderte, sondern ironischerweise viel mehr, weil sich mittlerweile quer durch die USA ein Netzwerk an Fürsprechern der Sache wie Gene Young­blood, Melinda Ward oder Robert Haller entwickelt hatte. In seiner letzten Kolumne für die Village Voice gestand Mekas 1976 pikiert ein, er sei nun nicht mehr unersetzbar. Seine Pikiertheit geht Hand in Hand mit einer Rhetorik des Rückzugs und der Abspaltung: »Ich denke, wir sollten die Zeitungen als vertrauenswürdige Informationsquellen zum Independent- und Avantgardefilm verwerfen.«

Auch Mekas’ langgehegte Skepsis gegenüber politischem Engagement verkehrte sich in den siebziger und achtziger Jahren in höchst fragwürdige Analogien. Die Avantgarde sah er umzingelt von übermächtigen hordes of commercial cinema, denen er gewissermaßen eine künstlerische Intifada erklären wollte: »We are Palestinians of Cinema. We can only speak irrationally.« Ähnlich absurd liest sich sich sein »Anti-Workers Manifesto« aus dem Jahre 1980. »Arbeiter der Welt, ich hasse euch«, heißt es darin unverblümt. Dumme, ungebildete Sklaven seien sie, die den Kardinalfehler begangen haben, sich weniger für »Poesie« als für »Kühlschränke, Fernseher und Autos« zu interessieren, die ihm, Mekas, die Luft verpesteten. Reaktionäre Aussagen, die doch ein altes Problem künstlerischer Avantgarden verdeutlichen. Deren Habitus attestierte der marxistische französische Soziologe Henri Lefebvre, einer der Ideengeber der Pariser Maiunruhen 1968, in seiner »Kritik des Alltagslebens« von 1974 eine inhärente ­Tendenz zur »Hitler’schen Mystik«.

So stellt sich beim Lesen von Mekas’ Tagebüchern nach und nach ein fauliger Geschmack ein, der die von Mekas angestrebten, gelegentlich aufblitzenden Momente von Schönheit fraglos überlagert. Vielleicht hatte Mekas’ Irrgarten der ­Neonlichter immer schon ein morbides Fundament. Vielleicht haben ihn die Siebziger wie auch Jean-Luc Godard in einen Zustand weltanschaulicher Umnachtung getrieben. Am Ende seiner Aufzeichnungen heißt es immerhin: »Cinema is always beginning«, Kino als permanenter Neuanfang. Das war es, als Jonas Mekas die Kamera in die Hand nahm, das war es davor und das wird es auch bleiben.

Jonas Mekas: I Seem to Live. The New York Diaries – Vol. 2, 1969–2011. Hrsg. von Anne König. Spector Books, Leipzig 2021,1560 Seiten, 38 Euro