Philipp Felsch schildert die Editionsgeschichte der Nietzsche-Gesamtausgabe

Der wahre Nietzsche

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Zahlreiche deutsche Denker waren nach dem Ende des Nationalsozialismus kompromittiert, weil sie sich mit den Nazis gemein gemacht hatten. Ein anderer war posthum zu einem Philosoph der Nationalsozialisten geworden: Friedrich Nietzsche. Das hatte nicht zuletzt mit seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche zu tun, die seinen Nachlass teils manipulativ handhabte, um ihn den Nazis anzudienen.

Dennoch gilt Nietzsche bis heute als kanonischer Philosoph; insbesondere die französischen Poststrukturalisten haben aus dem Verächter des Christentums einen ihrer Stammväter gemacht. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in seinem neuen Buch »Wie Nietzsche aus der Kälte kam«. Mit viel Gespür für die komischen und interessanten Aspekte dieser Editionsgeschichte erzählt Felsch, wie die ­beiden italienischen Philologen Giorgio Colli und und Mazzino Montinari den deutschen Philosophen mit einer Gesamtausgabe zu rehabilitieren versuchten. Indem sie den nachgelassenen Schriften Nietzsches viel Raum gaben, sollten posthume editorische Eingriffe ins Werk kenntlich und der unverfälschte Nietzsche zugänglich gemacht werden.

Colli war ein antipolitischer, fast mystisch denkender Philosophielehrer, Montinari sein Schüler, der der Kommunistischen Partei Italiens beitrat. Während Colli mit Verlegern verhandelte, saß Montinari im Nietzsche-Archiv in Weimar und entzifferte unter den Augen der Stasi die Handschriften des im Realsozialismus verpönten Denkers.

Entgegen der Intention der Herausgeber erfuhr die ab 1967 erscheinende »Kritische Gesamtausgabe« vor allem eine an den Theorien des Poststrukturalismus orientierte Rezeption. Colli und Montinari waren sehr unzufrieden mit der ihrer Ansicht nach beliebigen Interpretation etwa eines Michel Foucault, die ihre Edition ermöglicht hatte. Das Denken ließ sich eben nicht kontrollieren – das wusste schon Friedrich ­Nietzsche.

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. C. H. Beck, München, 2022, 287 Seiten, 26 Euro