Die Nato ist im Ukraine-Krieg kein unfreiwilliger Bündnispartner für Linke

Ausgetretene Pfade verlassen

Es fehlen kluge linke Analysen des Ukraine-Kriegs, die nicht von Block­denken und alten Erklärungsmustern geprägt sind. Die Hoffnung, in den westlichen Regierungen unfreiwillige Verbündete zu haben, die den Konflikt zufriedenstellend lösen werden, ist trügerisch.

Kriege befördern das Bedürfnis nach Sicherheit. Das gilt auch für die deutsche Linke. Und beileibe nicht bloß für deren traditionalistischen Flügel, der seit Wochen versucht, sich und andere davon zu überzeugen, dass irgendwie doch die Nato an allem schuld sein muss. Auf den russischen Überfall auf die Ukraine reagiert noch jede Fraktion mit altbewährten Analysemustern: Antideutsche sehen in der russischen Kriegspolitik den Racketstaat am Werke; für die Wertkritik ist es der Krisen­kapitalismus, der seine hässliche Fratze zeigt; und aus dem Umfeld des Bündnisses »Stop the Bomb«, das sich für Sanktionen gegen den Iran einsetzt, wird jetzt die westliche Appeasement-Politik gegenüber Russland ange­prangert.

Ganz falsch ist das wahrscheinlich alles nicht; aber auch nicht so richtig befriedigend. So drängt sich Horkheimers Racket-Begriff zur Beschreibung von Wladimir Putins Kleptokratie geradezu auf. Aber gerade die, die ihn, wie Thorsten Fuchshuber in der Sans phrase 7/2015, auf Russland anwenden, begreifen ohnehin die gesamte spätkapitalistische Gesellschaft als eine von Rackets. Da stellt sich die Frage, wie hilfreich so ein kategorialer Universalschlüssel für die konkrete Analyse ist.

Natürlich wird auch, wie alles, was so in der Welt passiert, dieser Krieg etwas mit der Krisendynamik des Kapitals zu tun haben; aber ein bisschen genauer, als Tomasz Konicz das in seinen Artikeln zum Thema tut, hätte man die Vermittlung dann doch gerne bestimmt. In Konkret 4/2022 etwa schlägt er einen großen Bogen vom Krieg in der Ukraine zur Tatsache, dass »die Defizitkreisläufe zwischen den USA und China vor dem Zusammenbruch zu stehen scheinen«. Das klingt zwar einerseits mächtig imposant, andererseits aber auch nicht unbedingt neu. Mit der Prophezeiung, dass der Zusammenbruch des Kapitalverhältnisses unmittelbar bevorstehe, reüssiert die Krisis-Schule schließlich seit den Neunzigern, frei nach dem Motto: Irgendwann wird’s schon stimmen.

Wer glaubt, jetzt sei die Nato gezwungen, für die Sache der Freiheit einzutreten, freue sich bloß nicht zu früh.

Natürlich darf man auch in diesem Krieg Partei ergreifen: nicht bloß, weil die Angegriffenen allemal das Recht auf Selbstverteidigung haben, sondern auch, weil die Niederlage des großrussischen Nationalismus ein Sieg für die Menschheit wäre. Und doch beschleicht einen bei der Reaktivierung der alten »Fanta statt Fatwa«-Parolen der 9/11-Ära ein gewisses Unbehagen. Seit dem Ende der Sowjetunion, schrieb Jörn Schulz an dieser Stelle, richteten sich westliche Militäreinsätze fast immer gegen »rechtsextreme Regimes« und würden für »freie Wahlen« sorgen. Aber für Gestalten wie Muammar al-Gaddafi und Slobodan Milošević wirkt der Begriff »rechts­extrem« eher schief, und als allzu segensreich haben sich die freien Wahlen in von Krieg verwüsteten Ländern auch nicht immer erwiesen. Das lässt vermuten, dass an dem Schema irgend etwas nicht ganz hinhaut.

Mit den Antiimps ist sich diese Sicht der Dinge einig, dass es sich beim ­Ukraine-Krieg um eine Blockkonfrontation handelt, eine Art Neuauflage des Kalten Kriegs; uneinig ist man sich nur, auf welcher Seite man stehen müsse. Aber das verfehlt gerade den spezifischen Charakter des Systems Putin. Dieses bemüht sich zwar, alle möglichen Kräfte einzuspannen, denen freedom &  democracy, aus welchen Gründen auch immer, nicht in den Kram passen; aber anders als etwa der islamistische Terror hat man gerade keinen alternativen Gesellschaftsentwurf in petto. Ganz im Gegenteil: Wie der russische Sozialist Ilja Budrajtskis betont, beharrt die rus­sische Herrschaftsclique demonstrativ darauf, einer Demokratie nach westlichem Muster vorzustehen, mit allem, was dazugehört: Marktwirtschaft, Parlament und freie Presse. Und selbst die Begründungen, mit denen man sich die Einmischungen kulturfremder Mächte in die innerrussischen Angelegenheiten verbittet, sind oft vom Westen ausgeborgt, ob von Samuel Huntington oder von Carl Schmitt.

Die Nachahmung ist freilich nicht bloß Mimikry, sondern auch trolling. ­Indem Russland seine Kriege wahlweise als »war on terror« verkauft, wie im Fall Tschetscheniens und Syriens, oder als Verhinderung von Genoziden, wie in Georgien und jetzt der Ukraine, präsentiert es sich nicht bloß als gelehriger Schüler des Westens. Der offene Hohn, der aus der Behauptung spricht, einen jüdischen Präsidenten als Wiedergänger Hitlers absetzen zu wollen, ist vielmehr Programm: So fadenscheinig wie unsere Legitimationen sind die euren schon lange. Das Nebeneinander aus orthodoxer Frömmigkeit und Luxusgeprotze, gangster chic und law and order, mit dem das Regime sich inszeniert, bekennt offen seinen Talmi­charakter ein. Es bestreitet, dass Politik überhaupt etwas anderes sein könnte als Spektakel.

Wenn es denn eine Konstante in der Selbstlegitimation der Putin’schen Herrschaft gibt, dann die Beschwörung einer von allen konkreten Inhalten befreiten »Stabilität«. Das hat seine Ursache nicht zuletzt in der russischen Historie. Russland ist schließlich das einzige Land, in dem je so etwas wie eine proletarische Revolution gelang; ein Faktum, das zugleich in die nationale Erzählung integriert wie beständig externalisiert werden muss. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung kann sich die heutige russische Führung daher sowohl auf die Tradition des Faschismus wie die des Stalinismus berufen: die der Konterrevolution gegen die Revolution und die der Konterrevolution in der Revolution.

Der »freie Westen« weiß darum nie genau, was mit diesem Russland anzufangen ist. Als Musterschüler des Neo­liberalismus, der das größte Privatisierungsprogramm der Weltgeschichte abwickelte, widerlegt es zugleich dessen Selbstlegitimation, dass mit dem Freihandel die Freiheit Hand in Hand gehe. So ergibt sich keine klare Frontstellung, sondern ein Pendeln zwischen Avancen und Sanktionen. Nicht bloß Donald Trump prahlte mit seinem guten Draht zu Putin, sondern vor ihm schon George W. Bush und Barack Obama; und für den Mann mit der harten Hand, der zu Hause und in Syrien für Ruhe im Karton sorgt, können sich gleichermaßen die neuen Rechtspopulisten wie die Kalten Krieger von einst erwärmen.

Wer aber glaubt, jetzt sei es endgültig vorbei mit der Kumpanei und die Nato quasi gezwungen, für die Sache der Freiheit einzutreten, freue sich bloß nicht zu früh. Denn Deutschland, so heißt es derzeit überall, sei dabei, sein Gewicht endlich auch militärisch in die Waagschale zu werfen und seinen lange verwaisten Platz als global player einzunehmen. Von Deutschland aber weiß man, dass es bis zuletzt gehofft hat, ein rascher russischer Siegeszug in der Ukraine würde ernsthafte Sanktionen überflüssig machen; und dass es daher darauf drängen wird, die Sanktionen bei der erstbesten Gelegenheit wieder auszusetzen.

Vielleicht ist das etwas, worauf man als Feind von Staat und Nation mal ein Auge haben sollte.