Auftritte westlicher Politiker in Kiew garantieren der Ukraine keine ausreichende Hilfe

Die Stunde des Pfaus

Kiew gilt nun als sichere Bühne für Auftritte westlicher Politiker. Wie weit deren Unterstützung für die Ukraine tatsächlich geht, bleibt unklar.
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Kiew. Nieselregen. Aber die Frisur sitzt. Einige Strähnen des sorgfältig durcheinandergebrachten Blondschopfs von Boris Johnson tanzten im Wind, als er am Samstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch die Straßen der Hauptstadt schlenderte. Der britische Premierminister dürfte von der Inszenierung mehr profitieren als die Ukraine. Zumindest kann er hoffen, dass nun ­weniger über seine illegalen Partys während des Lockdowns und das »Brexit«-Desaster gesprochen wird.

Den »Mut eines Löwen« attestierte Johnson den Ukrainern, in Unkenntnis oder Ignoranz der zoologischen Fakten. Löwen jagen in den wenigen Stunden des Tages, die sie nicht verschlafen, nur schwächere Tiere; genauer gesagt überlassen die männlichen Tiere diese Arbeit meist den Löwinnen. Als eine solche muss man die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht betrachten, bei ihrem Besuch in Butscha am Vortag aber stand immerhin das Gedenken an die Opfer des dortigen Massenmords im Vordergrund. Johnson dagegen gab, bleibt man im Reich der Tierklischees, den Pfau, und er dürfte nun, da derartige Besuche als sicher gelten, nur der erste einer Reihe von Politikern gewesen sein, die in Kiew ihr Rad schlagen wollen.

In der Ukraine hat man weit bedeutendere Probleme als dubiose Politiker, die das Land als Kulisse für die Aufbesserung ihre Images nutzen wollen. Die Kritik an Johnsons Vergleich des ukrainischen Freiheitskampfs mit dem »Brexit« überließ Selenskyj Ende März seinem Vorgänger Petro Poroschenko; die Aufgabe des Präsidenten ist es, in Zusammenarbeit mit den Botschaftern, die auch mal das di­plomatische Protokoll außer Acht lassen wie Andrij Melnyk in Deutschland, der Ukraine so viel Unterstützung zu verschaffen wie irgend möglich. Diese improvisierte Propagandastrategie funktioniert trotz einiger Fehler recht gut, vor allem indem sie die westliche Öffentlichkeit als Druckmittel gegen zögerliche Regierungen mobi­lisiert, doch kann sie Zwänge und Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Politik nicht außer Kraft setzen.

So plädierte Johnson in Kiew für ein Ende des Imports fossiler Brennstoffe aus Russland, der in Großbritannien allerdings nur drei Prozent der Gas- und acht Prozent der Ölversorgung ausmacht. Jenseits der exemplarischen Sanktionierung russischer Oligarchen zeigt seine Regierung aber kaum Ambitionen, die Finanzwirtschaft so zu regulieren, dass sich russische Kapitaltransfers unterbinden ließen. Anderswo vertritt man nationale Wirtschaftsinteressen diskreter als in Deutschland, wo selbst Politikerinnen der Linkspartei brav die Gräuelpropaganda von Unternehmern nacherzählen, die prophezeien, ein Energieembargo gegen Russland werde »unseren Wohlstand zerstören« (so Martin Brudermüller, der Vorstandsvorsitzende von BASF). Doch eine langfristige Abkehr von Geschäftsinteressen dürfte auch in anderen westlichen Staaten nur möglich sein, wenn die Bedrohung durch Russland als existentiell erachtet wird.

Das aber ist – eine paradoxe Wirkung der offenkundigen Schwächen der russischen Militärmaschine – nun wohl nicht mehr der Fall. Der Ukraine-Krieg wird zur Normalität und gilt, nach anfänglicher Unsicherheit angesichts nuklearer Drohgebärden, als kalkulierbar. Tatsächlich deuten Propaganda und Kriegführung Russlands derzeit darauf hin, dass Präsident Wladimir Putin von maximalistischen Zielen vorläufig abgerückt ist und sich mit Eroberungen im Osten und Süden der Ukraine zufriedengeben könnte. Damit dürfte der Druck auf die Ukraine steigen, Zugeständnisse an Russland zu machen, sobald ein Waffenstillstand in Aussicht steht.

Es sei ein »schrecklicher Fehler« gewesen, dass die westlichen Staaten 2014 auf die Annexion der Krim nicht energischer reagiert hätten, schrieb Johnson Mitte März im Daily Telegraph. Doch es wäre voreilig, aus solchen auch in Deutschland zu vernehmenden Bekenntnissen auf einen Lernprozess zu schließen. Vorsorglich haben die westlichen Regierungen es unterlassen, Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu formulieren. Bedeutsamer als pathetische Auftritte wäre eine Garantieerklärung der westlichen Staaten, diese Sanktionen sowie den zivilen und militärischen Nachschub für die Ukraine unvermindert aufrechtzuerhalten, bis eine für deren Regierung akzeptable Lösung erreicht ist.