Die russische Kriegsbegründung rekurriert auf nationale Geschichtsmythen

Der Kampf um die Geschichte

Der russische Präsident Wladimir Putin bedient sich russischer und sowjetischer Geschichtsfragmente, um der Ukraine ihr Recht auf Unabhängigkeit abzusprechen. In der Ukraine sind eigene Geschichtsmythen entstanden, die den Kampf um nationale Unabhängigkeit preisen.

Es war als Drohung gemeint. »Die Ukraine ist für uns nicht bloß ein Nachbarland«, sagte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am 21. Februar, »sondern unveräußerlicher Teil unserer Geschichte, unserer Kultur und unseres spirituellen Raums.« Putin holte in seiner über einstündigen Rede weit aus, um der Ukraine ihr Recht auf Unabhängigkeit ab­zusprechen. Die historische Rus sei der Vorgängerstaat Russlands gewesen und die Menschen, »die im Südwesten der historischen russischen Gebiete gelebt haben, nannten sich seit jeher Russen«. Doch jetzt herrsche über diese Gebiete ein vom Westen kontrolliertes »aggressives und nationalistisches Regime«, das die russische Bevölkerung in der Ukraine mit einem »Genozid« bedrohe. Drei Tage später begann die Invasion.

Der Name Rus geht mutmaßlich auf das Geschlecht der Rurikiden unter Fürst Rjurik zurück, der 862 die russische Staatlichkeit begründet haben soll. Doch die Hauptstadt der Rus sei Kiew gewesen, weshalb man von der Kiewer Rus spreche, kontert die ukrainische Seite. An der Stelle Moskaus habe damals noch Wald gestanden. Als Stadt wurde Moskau erstmals 1147 urkundlich erwähnt.

Der Streit um die Rus ist nur einer der Kämpfe um nationale Mythen, die im Kontext des Kriegs in der Ukraine ausgefochten werden. Putin veröffentlichte im Juli 2021 einen Essay mit dem Titel »Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern«, in dem er die heutige Ukraine als »Anti-Russland-Projekt« bezeichnete, das von westlichen Mächten gesteuert werde. »Wir werden nie zulassen, dass unsere historischen Gebiete und die Menschen, die uns nahestehen und dort leben, gegen Russland eingesetzt werden«, warnte er. Im Oktober folgte ihm der 2020 zurückgetretene Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew mit einem noch schrilleren Pamphlet: Die ukrainische Regierung bestehe nur aus »Vasallen« ihrer »Herren aus Übersee« und ihre Führungsfiguren hätten keine feste nationale »Selbstidentität«.

Die russische Armee erobert derzeit vor allem ostukrainisches Terri­torium, Putin zufolge »unsere histo­rischen Gebiete«, und zerstört dort Städte wie Mariupol oder Charkiw.

Dass die heutige Ukraine letztlich nur ein Unfall der Geschichte sei, bekräftigte Putin in seiner Fernsehansprache am 21. Februar. Sie habe nie »stabile Traditionen echter Staatlichkeit« besessen. Der ukrainische Staat sei vielmehr von Russland geschaffen worden, genauer von den Bolschewisten nach der Oktoberrevolution 1917, »indem sie ­historisch russisches Land abtrennten«. Die Eigenstaatlichkeit der Ukraine sei Produkt der »abstoßenden und utopischen Phantasien, die durch die Revolution inspiriert wurden«, denn Lenin habe auch das Prinzip der »nationalen Selbstbestimmung« in den Gründungsdokumenten der Sowjetunion festschreiben lassen, was 1991 zu deren Auseinanderbrechen geführt habe.
Tatsächlich ist die Geschichte der Ukraine vor und nach 1917 komplizierter. Nach der Februarrevolution bildeten sich auf den Gebieten zweier zerfallender Imperien, des russischen und des österreichisch-ungarischen, konkurrierende ukrainische Regierungen. Die sogenannte Zentralna Rada, das Parlament, rief in Kiew die Ukrainische Volksrepublik aus. Im Dezember 1917 entstand im ostukrainischen Charkiw unter bolschewistischer Führung die kurzlebige Ukrainische Volksrepublik der Sowjets. Und im November 1918 entstand inmitten der Auflösung Österreich-Ungarns die Westukrainische Volksrepublik mit der Hauptstadt Lwiw.

Bereits im Februar 1918 flüchtete die sozialistische Regierung der Ukrainischen Volksrepublik vor der Roten Armee aus Kiew. Kurz darauf besetzten deutsche und österreichische Truppen die Ukraine. Ein Kongress grundbesitzender Bauern erklärte mit deutscher Unterstützung den General Pawlo Skoropadskyj zum Hetman, eine historische Bezeichnung für einen Kosakenführer. Im Dezember 1918 stürzten ehemalige Mitglieder des Zentralrats das reaktionäre und autokratische Hetmanat. Im Januar 1919 eroberten die Bolschewiki Kiew endgültig. Sie riefen die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik aus, die 1922 Teil der neugeschaffenen Sowjetunion wurde. Zuvor hatte die Rote Armee die anarchistische Bauernbewegung Machnowschtschina ­niedergeschlagen.

Die Jahre nach der Oktoberrevolution werden in der russischen wie in der sowjetischen Geschichtsschreibung als Bürgerkrieg bezeichnet, von vielen ukrainischen Historikern jedoch als »ukrainische Revolution«. Die Bezeichnung »Bürgerkrieg« impliziert politische Heterogenität, »Revolution« hingegen bezieht sich auf eine ukrainische Bevölkerung, die sich vereint gegen einen Besatzer wehrt. So wird eine Nationalgeschichte konstruiert, in der ein ukrainisches Volk stets geeint gegen wechselnde Okkupanten um das Recht auf einen unabhängigen Staat kämpfte.

Gegenwärtig porträtiert die russische Propaganda die Ukraine als neuen NS-Staat. Sie müsse »entnazifiziert« und der »Genozid« an der ethnisch russischen Bevölkerung durch die Banderowzi gestoppt werden. Banderowzi hießen die Anhänger des ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera und dessen Organisation Ukrainischer Na­tionalisten (OUN), eine faschistische Terrororganisation aus den dreißiger und vierziger Jahren, die zunächst hauptsächlich Polen bekämpfte und ab 1940 den Partisanenkampf gegen die Rote Armee aufnahm. Banderas Erben dominierten Putin zufolge die heutige Ukraine und stellten eine Gefahr für Russland dar.

Dass die russische Propaganda sich derart kurzschlüssig und einseitig auf Bandera kapriziert, macht dessen tatsächliche Verehrung auf ukrainischer Seite nicht weniger problematisch. Der Bezug auf Bandera ist in den vergangenen Jahren in der Ukraine immer prominenter geworden. Lange war seine Verehrung auf die Westukraine beschränkt, wo die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) bis 1954 gegen die Rote Armee gekämpft hatte, die den Aufstand gewaltsam niederschlug. Doch nationalistische ukrainische Historiker arbeiteten zielstrebig daran, ein positives Bild der in der Sowjetunion dämonisierten Nationalisten zu propagieren. Insbesondere nach dem Maidan-Umsturz 2014 wurden Bandera und ­andere zum Symbol des ukrainischen Unabhängigkeitskampfs stilisiert. Nach dem »Gesetz über die rechtliche Stellung und die ehrende Erinnerung an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine« vom April 2015 kann strafrechtlich belangt werden, wer die Legitimität ihres Kampfs in Abrede stellt.

Dieser Kampf war jedoch keiner für eine demokratische Ukraine. Die OUN kollaborierte bereits vor dem Weltkrieg mit den Nazis, Mitglieder der OUN und der UPA waren an der Ermordung Zehntausender Jüdinnen und Juden, Polinnen und Polen beteiligt. Die OUN war antisemitisch und trat für einen ethnisch homogenen, autoritären Staat ein.

Im Juni 1941 rief die OUN im von der Wehrmacht besetzten Lwiw einen eigenen Staat aus, der »eng mit dem nationalsozialistischen Großdeutschland« zusammenarbeiten wollte. Die Nazis störte das Unterfangen, sie inhaftierten Bandera bis 1944. Heutzutage wird oft auf seine Zeit als sogenannter Ehrenhäftling – als »persönlicher Gefangener des Führers« genoss man einige Privilegien – in einem Sonderbereich des KZ Sachsenhausen verwiesen, um ihn und die gesamte OUN-UPA vom Vorwurf des Faschismus freizusprechen. So konnte Bandera als »nationaler Freiheitskämpfer« und »Feind der zwei totalitären Systeme« zu einem Symbol der Proteste auf dem Maidan werden.

Mit dem Maidan-Umsturz ging auch eine entschlossene Abkehr von der sowjetisch geprägten Erinnerungspolitik einher. Maidan-Anhänger zerstörten sowjetische Denkmäler wie Lenin-Statuen, und im Mai 2015 erließt das Par­lament die sogenannten Dekommunisierungsgesetze. Nicht nur Denkmäler wurden abgebaut, auch Orte und Straßen erhielten neue Namen.

Zahlreiche ukrainische Bürger lehnten das ab und sahen darin einen Angriff auf ihnen wichtige antifaschistische, aber auch patriotische Traditionen, die sie mit der Sowjetgeschichte verbanden. Solange die Ukraine zur ­Sowjetunion gehört hatte, bildete insbesondere der Große Vaterländische Krieg die Grundlage eines mächtigen sowjetischen Patriotismus, der bis heute fortlebt. Die russische Propaganda nutzte das, um die ukrainischen Regierungen nach 2014 zu diskreditieren.

Die in Russland nunmehr ausgerufene »Entnazifizierung« der Ukraine soll die Wiederholung des Siegs gegen die Nazis darstellen. So erschien am Freitag voriger Woche die italienische Zeitung Corriere della Sera ein Interview mit Sergej Karaganow, dem ehemaligen außenpolitischen Berater Putins. »Es war klar, die Ukraine war zu etwas geworden wie Deutschland etwa 1936/1937«, ­begründete dieser den gegenwärtigen Krieg.

Anfang April veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti einen Text, der dieselbe Argumentation verfolgte. Demnach sei nicht nur die ukrainische Führung »von der nationalsozialistischen Politik beherrscht«, ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung bestehe aus »passiven Nazis« und müsse ebenfalls gewaltsam umerzogen werden. Diese »Entnazifizierung wird unweigerlich auch eine Entukrainisierung bedeuten«, so der Text.

Kriegspropaganda instrumentalisiert Geschichte, indem historische Tatsachen ausgeblendet werden, die nicht ins Bild passen. Sie konstruiert nationale Mythologien, in der innere Widersprüche nicht vorkommen, nur der Kampf gegen den äußeren Feind. Gleichzeitig zerschellen nationalistische Mythen an der Wirklichkeit des Kriegs. Die russische Armee erobert derzeit vor allem ostukrainisches Territorium, Putin zufolge »unsere historischen ­Gebiete«, und zerstört dort Städte wie Mariupol oder Charkiw. Offenbar hatte die russische Führung erwartet, dass die überwiegend russischsprachige Bevölkerung dort weniger Widerstand leisten würde. Diese erlebt die russischen Soldaten jedoch weniger als ­Befreier denn als brutale Invasoren und Besatzer.