Ein Gespräch mit Gustavo Gallón Giraldo über die Parlamentswahlen in Kolumbien

»Der große Sieger heißt Gustavo Petro«

Chancen der Linken. Der Jurist Gustavo Gallón Giraldo spricht über die Parlamentswahlen, die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und die erhoffte progressive Entwicklung in Kolumbien.
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Bei den Parlamentswahlen am 13. März in Kolumbien kam das linke Wahlbündnis Pacto Histórico mit 16,7 Prozent der Stimmen auf den ersten Platz, stellt aber nicht die stärkste Fraktion im Repräsentantenhaus. Bietet dieses Ergebnis Potential für Reformen, für den Wandel, den sich viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer wünschen, wie nicht zuletzt die Massenproteste vom Frühjahr 2021 gegen die rechte Regierung von Präsident Iván Duque gezeigt haben?

Das Wahlergebnis war in weiten Teilen vorhersehbar. Der große Sieger heißt ohne Zweifel Gustavo Petro, der Vorsitzende des Pacto Histórico, und es ist positiv, dass sich der Anteil progressiver Parteien und Mandatsträger in den beiden Kammern des Parlaments, Senat und Repräsentantenhaus, merklich erhöht hat.

Die Parlamentswahlen gelten als Fingerzeig für die Ende Mai geplanten Präsidentschaftswahlen. Ist dem so?

Ja, denn gleichzeitig mit den Abgeordneten wählten die Wahlberechtigten am Sonntag in den Vorwahlen die Kandidatinnen und Kandidaten der großen Parteibündnisse für die Präsidentschaftswahl am 29. Mai. Dabei schnitt Gustavo Petro mit 4,5 Millionen Stimmen sehr gut ab, ihm folgte mit 2,1 Millionen Stimmen Federico Gutiérrez. Der ehemalige Bürgermeister von Medellín gilt als Kandidat des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und führt das konservative Bündnis Equipo por Colombia (Team für Kolumbien) an. Hinter den beiden Kandidaten klafft eine große Lücke, denn Sergio Fajardo vom Mitte-links-Bündnis Coalición Centro Esperanza (Koalition Zentrum Hoffnung) kam nur auf gut 720 000 Stimmen. Trotzdem läuft es derzeit auf ­diese drei Kandidaten hinaus, die die Präsidentschaft unter sich ausmachen werden.

»Die Situation ist kompliziert, weil gleich zehn Parteien im Kongress vertreten sind und sich der kommende Präsident Mehrheiten suchen muss.«

Ich persönlich glaube nicht an einen Sieg im ersten Wahlgang, auch wenn Petro dafür die Werbetrommel rührt. Ich denke, dass es einen zweiten Wahlgang geben wird, denn ich traue es Petro nicht zu, 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler im ersten Wahlgang zu überzeugen. Ich erwarte in den kommenden Wochen eine heftige Kampagne der Rechten gegen Gustavo Petro.

Das Wahlergebnis wird in Kolumbien gern als Wendepunkt bezeichnet, weil die Sitzverteilung im Kongress sich stark verändert hat und die erzkonservative Regierungspartei des Centro Democrático (Demokratisches Zentrum) enorm verloren hat. Teilen Sie die Einschätzung?

Ja und nein, denn auf der einen Seite haben fortschrittliche politische Kräfte deutlich hinzugewonnen, aber auch die traditionellen Parteien, die Liberalen und die Konservativen, sind erstarkt. Die Situation ist kompliziert, weil gleich zehn Parteien im Kongress vertreten sind und sich der kommende Präsident Mehrheiten suchen muss.

Halten Sie die Wahlen für fair und transparent?

Ich glaube, dass es viele Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Ich musste ausdrücklich im Wahllokal darum bitten, mir die von mir präferierte Liste zu geben – das ist nicht in Ordnung. Das mag in Bogotá keine wichtige Rolle spielen, wohl aber in abgelegenen Regionen. Wahlhelfer sollten definitiv keinen Einfluss nehmen können bei der Ausgabe der Wahlunterlagen.

Grundsätzlich benötigen wir eine Wahlrechtsreform, denn das System ist veraltet, bietet zu viele Lücken und Manipulationsmöglichkeiten. Da herrscht Reformbedarf.

Wo sehen Sie diesen insbesondere? Ist die Justiz ein Fall für Reformen?

Definitiv. Kolumbien hat zu wenige Richterinnen und Richter, zu wenig gut ausgebildetes Justizpersonal, die Justizskandale der vergangenen Jahre sind dafür ein Beleg. Wenn höchste Richter mit sich über Urteile verhandeln lassen, muss reagiert, dies sanktioniert werden. Doch das passiert zu selten und zu wenig konsequent. Das hat System, denn der derzeit amtierende Generalstaatsanwalt, Francisco Barbosa, ist nicht dank seiner Qualifikation ins Amt gekommen, sondern aufgrund seiner persönlichen Freundschaft zum noch amtierenden Präsidenten Iván Duque.

Doch noch wichtiger erscheint mir, dem Friedensabkommen mit der Guerilla Farc wieder neues Leben einzuhauchen. Die Regierung Duque hat auf kriminelle Art und Weise dessen Implementierung blockiert, hintertrieben und konterkariert. So ist die Kommission für Sicherheitsgarantien (Comisión de Garantías), die ein Konzept zur Bekämpfung pa­ramilitärischer Gruppen entwickeln sollte, heimlich, still und leise ­beerdigt worden. Ich war Mitglied dieser Kommission, die kaum eine Handvoll Male zusammengetreten ist.

Sie plädieren seit Jahren für strukturelle Reformen in Armee und Polizei. Hoffen Sie, dass eine neue fortschrittliche Regierung diese angehen wird?

Hoffen ja, das ist jedoch ein Mammutaufgabe. In der Regierungszeit von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018, Anm. d. Red.) gab es auch positive Signale aus der Armee, auch auf hoher Ebene, wo zumindest über Reformen diskutiert wurde. Damals folgte man einer neuen Militärdoktrin, der »Dok­trin Damaskus«, die sich von den vorherigen darin unterschied, dass sie eine Abkehr von der Doktrin des Vorrangs der inneren Stabilität, der Bekämpfung des inneren Feindes darstellte.

Das war ein wichtiger Schritt, von dem heute nicht mehr die Rede ist. Die Regierung von Iván Duque hat sie verschwinden lassen, sie für nicht relevant erklärt – das ist ein Rückschritt. Parallel dazu sind die fortschrittlichen Kreise in der Armee verstummt. In Kolum­bien folgt man heute wieder der Dok­trin der Aufstandsbekämpfung – während eines Friedensprozesses. Das ist mehr als kontraproduktiv und schlicht kriminell. Die Regierung bestreitet das zwar, aber viele Indizien sprechen dafür, dass man einer solchen Dok­trin folgt. Deren Text kann man sogar auf einem Büchermarkt in Bogotá kaufen, obwohl er eigentlich streng geheim ist.

Aus diesen Gründen hoffe ich auf eine neue Regierung, denn es ist offensichtlich, dass die jetzige die Strukturen unangetastet lassen und zu deren Verfestigung beitragen würde.

Und die Polizei?

Die Polizei untersteht nach wie vor der Armee. Kolumbien hat keine zivile, sondern eine militarisierte Polizei, die nach militärischen Gesichtspunkten ausgebildet wird, nicht nach zivilen. Das hat auch die UN-Menschenrechtskommission erst kürzlich moniert.

Im Frühjahr vergangenen Jahres hielt die Protestbewegung mit ihren Streiks Kolumbien drei Monate in Atem. War das ein Wendepunkt?

Ja, ich denke schon, denn der Streik hat einen Bewusstseinsschub mit sich ­gebracht – gerade unter den Jüngeren. Die Politisierung ist durch die enorme Repression, die viele Opfer zur Folge hatte, weiter verstärkt worden.

Trotzdem war die jüngste Wahlbeteiligung mit rund 47 Prozent geringer als vor vier Jahren. Wie ist das zu erklären?

Schwer oder gar nicht. Es gibt sicherlich viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die die Hoffnung aufgegeben haben, die ihr Vertrauen in die Demokratie verloren haben. Zudem ist vor allem in den ländlichen Gebieten der Stimmenverkauf nach wie vor verbreitet – das ist ein zweites Element. Aber auch ich habe eine höhere Wahlbe­teiligung erwartet und hoffe, dass es sie bei den Präsidentschaftswahlen am 29. Mai geben wird.

 

Gustavo Gallón Giraldo

Gustavo Gallón Giraldo ist Jurist, Soziologe sowie Kolumnist der liberalen kolumbianischen Tageszeitung »El Espectador«. Zudem leitet er die 1988 gegründete NGO Kolumbianische Juristenkommission (CCJ). Sie besitzt Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen und zählt zu den anerkannten Menschenrechtsorganisationen Kolumbiens. Gallón gehört außerdem zum Beraterkreis der kolumbianischen Wahrheitskommission und war Mitglied der »Comisión de Garantías« (Kommission für Sicherheitsgarantien), die ein Konzept zur Bekämpfung paramilitärischer Gruppen entwickeln sollte.